Aufzeichnung von Hermann Bahr, 3. 1. 1903

3/1 Leichter Regen. Nebel. Warm.
In die Stadt. Redaction. Burckhard. Schnitzler.
Im Herumfahren denke ich an ein Buch
das nichts als ganz kurz mein Grundverhältnis zu diesen anzugeben hätte.
Die Schneerose im Studiolo aufgeblüht; im Speiszimmer sind gar vier Knospen schon offen.
Von Olbrich kommt aus Moskau ein reizender Brief: ganz der ewig brausende, schaffende, drängende Feuermensch!
Zum Formalen des Mereschkowskischen Leonardo Walter Pater, Fritz Bley und Hugo heranzuziehen.
Kokoro gelesen, dann Homer.
άλλ’ τοι μέν ταΰτα θεών έν γούνασιν κεΐται
(Die Preisrichter hatten sitzend die Preise auf ihren Knieen liegen)
οἷα φίλοι ξεΐνοι ξείνοισιν διδοΰσιν.
In einem Briefe (den heute die »Zeit«, Nr 431, mitteilt) an seinen Studienfreund Samuel Engländer mittheilt, schreibt Kürnberger: »Es liegt in der bloßen Form der Alten eine wunderbare, fast magnetische Beruhigung.« Dies habe ich eben gestern und heut am ersten Gesang der Odyssee unendlich empfunden. Der sanfte Fall der Verse allein hat eine fast körperlich woltuende stille Macht. Am meisten rühren mich die Stelle, wo Odysseus sich wünscht, »auch nur den aufsteigenden Rauch seiner Heimat zu sehen« 59, dann die höfische Liebenswürdigkeit, der Anstand Telemachs gegen den Fremden (Athena), von 124 ab, das wunderbare Bild, wie der Sänger Phemios singt, die Freier schweigend lauschen und nun oben Penelope es hört, mit zwei Mägden herabkommt, die Wangen mit dem Schleier verhüllend, und weinend bittet, er möchte doch was anderes singen als dies traurige Lied von Troia, das sie zu sehr betrübe; ferner wie lieb Telemach sich nun gleich als der Herr fühlt; endlich das reizende Schlafengehen mit der Alten, die einst Laertes gekauft, und sehr gern gehabt, aber nicht berührt, χόλον δ’ άλέεινε γιτναικός.
Und auf das Ganze paßt so wunderbar Nietzsches: das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen.
Warum kommt bei Mereschkowski Bandello nicht vor, »der Leonardo oft besucht und beobachtet hat, wenn er an dem Abendmahle« (Rosenberg S. 64) Die Novellenwelt fehlt überhaupt. Ebenso nichts über Dante, den Leonardo genau kannte. Flüchtig S. 148. Warum spricht er gar nicht von der sagenhaften Akademie des Ludovico? (Rosenberg 87)
Leonardo: Maler, Bildhauer, Baumeister, Geometer, Mechaniker, Ingenieur, Maschinist, Artillerist, Optiker, Botaniker, Harfenist Flugtechniker, Musiker, Dichter, Stilist Anatom u. Philosoph. Dazu ein Athlet, als Schütze, Reiter Fechter u. Schwimmer Causeur berühmt – was nicht? ein liebenswürdiger Mensch von hoher Anmut; der Wissenschaft, der Kunst und dem Leben selbst gleich verbunden.
Burckhard: »Die ungeheuren Umrisse von Leonardos Wesen wird man ewig nur von Ferne ahnen können.«
Morgen: hauptsächlich Mereschkowski noch einmal lesen.
Olbrich telegrafieren.
»frammenti« XXXII (elegante parlatore)