Aufzeichnung von Hermann Bahr, 1. 2. 1904

1. Wunderschöner warmer Morgen. Frühlingsstimmung. Der Schnee zergeht, die braune Erde zeigt sich, die Fichten grünen. Überm See erscheint alles merkwürdig nah und ich sehe das nette Städtchen Steckborn gegenüber zum ersten Mal deutlich.
Böse Nacht, schlaflos, mit Beklemmungen, Hitze in den Adern.
In Schnitzlers »Einsamem Weg« wird von einem Künstler gesagt, es sei sein Unglück, daß »er sich auch in seinen Arbeiten sozusagen nur vorübergehend aufhielt«. Gilt von mir.
Im Februarheft der Neuen Rundschau spricht Kerr über den »Meister«. Ihn ärgert an mir (worin er recht hat), daß meine plastische Kraft meinen geistigen Intentionen nicht gewachsen ist. Er sagt das nie ausdrücklich gegen mich, auch hier nicht, er weiß vielleicht selbst gar nicht, daß es im Grunde nur dies ist, was er gegen mich hat.
Dazu kommt freilich noch (worin er nun gar nicht recht hat), daß er alles im Berliner Ton vorgetragen wünscht und mir meinen östreichischen so wenig verzeihen kann als den Franzosen ihren. Er gilt mir viel, weil er, für seinen Berliner Kreis, ganz gut weiß, alle Gegensätze der einzelnen Individuen zusammen machen erst das Ganze der Cultur aus, welche keinen entbehren mag, in welcher vielmehr jeder, um überhaupt selbst recht sein zu können, den anderen braucht. Dazu aber, dies nun auch im höheren europäischen Kreise einzusehen, für den diese neue Berliner Cultur schließlich doch wieder nur eine einzelne Farbe im ganzen Gemälde ist, dazu ist er vorderhand noch nicht gekommen. Recht hat er aber unbedingt in der Forderung, sich nicht viel abzuquälen, was etwas bedeute, wenn es nur etwas sei.
Conrad Ferdinand Meyer sagt von seiner Mutter, sie sei »Heiteren Geistes, traurigen Herzens« gewesen, was mich so merkwürdig berührt, weil man doch das Wesen meiner Mutter gar nicht besser schildern könnte . . . und auch mein eigenes kaum, das so wenige verstehen.
Gelegentlich zu lesen »C. F. Meyer. In der Erinnerung seiner Schwester Betsy Meyer« Berlin Paetel 1903, in welchem das Pathologische seiner Begabg gut herauszukommen scheint. Vielleicht ließe sich einmal an Grillparzers Tagebüchern vor diesem Werk wieder das furchtbare Leiden zeigen, mit dem die »poetische Stimmung« bezalt wird.
Über die Mutter nachgedacht. Mir paßt weder der Name Julie noch Lercardie, es müßte einer sein, der mehr date (nach dem Vormärz schmeckt), ohne doch komisch zu sein, auf dem eher eine verstaubte Traurigkeit liegt.
Gar nicht komisch. Davor die Figur sehr bewahren. Eher direkt bös, aber auf eine fast groß zu nennende Art, spanisch bös. Böse alte Frau von Goya. So was.
Am besten sie anfangs lange zurückzuhalten, sodaß man sozusagen nur den um diese Figur schwebenden Rauch und Dampf, nicht aber eigentlich ihre Züge gewahrt. Monoton, grau. (Ich denk mir sie auch groß, hager, mit schweren Knochen; etwas Fatales in allem)
Dann, nachdem sie einem lange nur unheimlich gewesen ist, sagt sie plötzlich etwas, das die Thüre zur Vergangenheit aufmacht. Etwa: »Mir wär es auch lieber, es ging in der Welt freundlicher zu«
Ja nicht keifen, herrisch, unbeugsam. Detail: sie verträgt Berührungen nicht, für sie gleich wie ein Stoß, auch von ihren Kindern nicht; die körperliche Nähe eines Menschen beklemmt sie. Manchmal muß sie eine halbe Stunde liegen und schlafen; unwiderstehliches Bedürfnis. Die Kinder glauben auch, daß sie es weiß, wenn sie sich was Ungehorsames denken.
Monoton und taciturn.
Ernst Hardts kleine Novelle »An den Toren des Lebens« mit dem höchsten Entzücken gelesen.
Wie jetzt täglich: Stunden lang gelegen und an den Tod gedacht.