Brieftagebuch von Hermann Bahr, 3. 10. 1907

3. 10. 07
Früh.
Ich bin sehr vergnügt: eben hat mich Dein lieber Brief aufgeweckt, die strikenden Bahnarbeiter haben offenbar Einsicht und machen mit Liebesbriefen eine Ausnahme. Und so lieb schreibst Du, ich sehe Deine lieben Augen förmlich leuchten, hör die geliebte Stimme und das immer ein bissel verschnupfte Naserl, in das ich so gern leise mit dem kleinen Finger stupfe, worauf Du, Schwindlerin, tust, als wärst Du bös! Zu dem Cohn solltest Du einmal mit Frau Rosa Bahr zusammen hingehen und ihm durch sie Deine Meinung sagen lassen (was wahrscheinlich zur Folge hätte, daß sie sich gratis einen Bösendorfer herausschindet). Ich kann mir Deinen Schrecken denken, mit dem alten Fürer. Wie wirds jetzt sein, wenn die seine Pension nicht mehr kriegen?
Solche nachdenkliche Sachen schreib ich gedankenlos hin, während ich eigentlich nichts denke, nichts weiß, nichts fühle, als daß ich Dich lieb hab. So gehts mir immer: ich sitz im Theater, mach ein wichtiges Gesicht und eine strenge Stirne, berate, beschließe, bin ein fürchterlich ernster Mensch mit schweren künstlerischen Sorgen, wenn man aber den Deckel von mir abnehmen würde, möchte sich zeigen, daß in mir selbst von dem allem keine Spur ist, sondern nichts als ein einziger ewiger froher stiller sehnsüchtiger wilder betender lechzender segnender Gedanke an Dich, Liebstes, Bestes, Höchstes, Reinstes, Schlechtestes, Dümmstes Du, Du liebe Gesammtwelt, Du Urchaos und Sternengrund Du! Jetzt geh ich mir die verschiedenen Ausgaben der »Räuber« kaufen und denk mir eine Inscenierung aus.
Ich hab Dich lieb, grenzenlos grundlos sinnlos zwecklos, blos lieb lieb und immer mehr lieb und lieb.
3. 10. 07
Halb ein Uhr nachts ist und ich bin sehr müd. Vormittag hab ich mir eine Construction der Decorationen für die Räuber überlegt und mir sogar einen Zirkel u. ein Koloisches Quadratlpapier gekauft, um das Ganze aufzuzeichnen, wobei ich mir nur immer wünschte, Du solltest mir zuschauen, Du hättest Dich krank und mich wütend gelacht. Dann mit Reinhardt, der noch immer nicht weiß, ob er Genovefa oder Räuber will. Dann in einer sehr langweiligen Vorlesung in der Schauspielschule, mit einer Menge von berühmten Mimen zusammen (sind die grauslich!), darunter der alte einst sehr gefeierte Sigwart Friedmann, der erzälte, er habe in einer Zeitung ein Bild gesehen, auf welchem ich und die – Gutheil Schoder splitterfasernackt photographiert gewesen wären. Ich sagte nur: Das ist doch nicht möglich! Er aber schwor mir, es mit seinen eigenen Augen gesehen zu haben. So kommt die arme Gutheil um ihren guten Ruf. – Dann noch in der Liebelei, einer schlechten Aufführung, in der aber die Höflich einfach herrlich ist. Du würdest begeistert sein. Es gehört zum Allerstärksten. Und das bemerken diese Trotteln von Berlinern nicht.
Und dann noch zwei Stunden mit Reinhardt im Bureau.
Antsch, mein Antsch, wie sehn ich mich nach Dir und bin froh, daß es Dich gibt, und hab Dich lieb lieb lieb!