Hermann Bahr an Josef Redlich, 17. 1. 1927

München, 17. Jänner 1927

Sehr verehrter, lieber Freund!

Beschämung trübt mir die Freude, die Ihr soeben eingelangter Brief mir bereitet, Beschämung, daß ich den seit vielen Wochen geplanten Weihnachtsbrief an Sie bis heute noch immer ungeschrieben ließ: auf meinem Tische liegt seit Ende November ein mahnender roter Zettel: nicht vergessen Josef Redlich!, jeden Tag las ich ihn und ließ die Mahnung unerfüllt, denn ich wollte, wenn ich schon endlich schrieb, mich nicht mit ein paar hastigen Zeilen begnügen, aber zu mehr reichte die Kraft nicht aus, denn die Besserung meiner nun bald zwei volle Jahre schon andauernden »Nervenpleite«, die Besserung, die ich einem längeren Aufenthalt in der wundervollen Luft von Garmisch zu verdanken hatte, hielt doch dann kaum vier Wochen an, dann kamen die bösen, ängstigenden Schwindelanfälle wieder und da ich, um existieren zu können, fortwährend Feuilletons schmieren muß, steigern sie sich von Tag zu Tag und ich wurde wochenlang von einer permanenten Drehkrankheit arg gequält, besonders da sie noch überdies von starken Sehstörungen begleitet wurde. Zugleich bekam mein Dasein unerwartet eine Wendung gegen Norden, zunächst dadurch, daß ich zum Mitglied der preußischen Akademie (Sektion für Dichtkunst; Präsident der noch ganz junge Max Liebermann, der in ein paar Monaten 80 wird) gewählt wurde, und nun doch ein oder zweimal im Jahr einer Sitzung beiwohnen muß, dann aber auch dadurch, daß meine Frau, nach einem, an Berliner Gewohnheiten gemessen, geradezu tollen Erfolg Ihres musikdramatischen Vortrags und eines Gastspiels als Klytemnästra in der Oper plötzlich von einem Ruf an die Berliner Hochschule bedroht wird, den ich noch zu parieren hoffe, vielleicht aber auch akzeptiere, ich habe meine schönste Jugendzeit in Berlin verbracht, warum nicht mein Alter? Sie wissen so gut wie ich, daß Menschen von Begabung und Verdienst in der ganzen Welt willkommen sind und nur in Wien ausgewiesen werden, in der Republik gerade so wie unter Franz Joseph.
Aber die Neue Freie und das Neue Wiener Journal kommt Ihnen doch hoffentlich zu? So entsetzlich entwienert, daß Sie ohne diese beiden Lebensfreuden existieren könnten, werden Sie doch noch nicht sein? Wahrscheinlich wissen Sie ja von Wien mehr als ich, der nur sehr selten von dieser ehemaligen Stadt etwas erfährt, und dann immer nur durch Besuch ganz aus der Art geschlagener Wiener, wie neulich der Alma Mahler, die jünger und schöner ist als jemals, und Werfel’s, eines mit ihr, wenn er nicht durch Deutschland kutschiert, in Venedig lebenden Pragers, und vorige Woche Hofmannsthals, der eine jener guten Stunden hatte, in denen er sich plötzlich auf den unbeschreiblichen Reiz seiner geistigen Persönlichkeit besinnt, und aus der Alt-Ausseer Wassermännerei sich empor hebt – aber verzeihen Sie die Abschweifung, mein Herz kommt doch immer wieder zu Schnitzler, Hofmannsthal und Beer-Hofmann zurück, das Dreigestirn kann sich schon sehen lassen. Frau Alix Leo schrieb mir neulich einen Brief, ich sollte möglichst bald meinen Hans Ferdinand zum Kapellmeister an der Münchner Oper ernennen. In dieser Oper zerbricht man sich fortwährend nur darüber den Kopf, wer noch aller abgebaut werden könnte, und ich würde, abgesehen davon, daß wir beide mit der jetzigen Leitung so schlecht als möglich stehen, sofort ins Irrenhaus überführt werden, wenn ich an die Möglichkeit dachte, daß jemand zugebaut werden könnte. In Deutschland irren viele hunderte glänzende Musiker herum und wer von ihnen als Dirigent in einem Tingeltangel Unterkunft findet, preist sein Glück.
Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit, sei’s auch nur auf einer Karte, wissen, wie es Ihnen, lieber alter Freund, der verehrten, schönen Gattin, und den fröhlichen Kindern immer geht – wir letzten Wiener in der Diaspora, müssen einander ab und zu ein Zeichen geben, daß es noch, wenn auch bloß sozusagen in der Luft, Reste einer Menschenart gibt, um die doch eigentlich schad’ ist!
Sie alle von ganzem Herzen, das nur noch in Erinnerung an Sie noch zuweilen etwas weniger unsicher schlägt, grüßend, hoffe ich doch noch einige Zeit zu bleiben Ihr getreuer
Hermann Bahr