Beschämung trübt mir die Freude, die Ihr soeben eingelangter Brief mir bereitet, Beschämung,
daß ich den seit vielen Wochen geplanten Weihnachtsbrief an Sie bis heute noch immer
ungeschrieben ließ: auf meinem Tische liegt seit Ende November ein mahnender roter
Zettel: nicht vergessen
Josef Redlich!, jeden Tag las ich ihn und ließ die Mahnung unerfüllt, denn ich wollte, wenn ich
schon endlich schrieb, mich nicht mit ein paar hastigen Zeilen begnügen, aber zu mehr
reichte die Kraft nicht aus, denn die Besserung meiner nun bald zwei volle Jahre schon
andauernden »Nervenpleite«, die Besserung, die ich einem längeren Aufenthalt in der
wundervollen Luft von
Garmisch zu verdanken hatte, hielt doch dann kaum vier Wochen an, dann kamen die bösen, ängstigenden
Schwindelanfälle wieder und da ich, um existieren zu können, fortwährend Feuilletons
schmieren muß, steigern sie sich von Tag zu Tag und ich wurde wochenlang von einer
permanenten Drehkrankheit arg gequält, besonders da sie noch überdies von starken
Sehstörungen begleitet wurde. Zugleich bekam mein Dasein unerwartet eine Wendung gegen
Norden, zunächst dadurch, daß ich zum Mitglied der
preußischen Akademie (Sektion für Dichtkunst; Präsident der noch ganz junge
Max Liebermann, der in ein paar Monaten 80 wird) gewählt wurde, und nun doch ein oder zweimal im
Jahr einer Sitzung beiwohnen muß, dann aber auch dadurch, daß meine
Frau, nach einem, an
Berliner Gewohnheiten gemessen, geradezu tollen Erfolg Ihres musikdramatischen Vortrags
und eines Gastspiels als
Klytemnästra in der
Oper plötzlich von einem Ruf an die
Berliner Hochschule bedroht wird, den ich noch zu parieren hoffe, vielleicht aber auch akzeptiere, ich
habe meine schönste Jugendzeit in
Berlin verbracht, warum nicht mein Alter? Sie wissen so gut wie ich, daß Menschen von Begabung
und Verdienst in der ganzen Welt willkommen sind und nur in
Wien ausgewiesen werden, in der Republik gerade so wie unter
Franz Joseph.
Aber die
Neue Freie und das
Neue Wiener Journal kommt Ihnen doch hoffentlich zu? So entsetzlich
entwienert, daß Sie ohne diese beiden Lebensfreuden existieren könnten, werden Sie doch noch
nicht sein? Wahrscheinlich wissen Sie ja von
Wien mehr als ich, der nur sehr selten von dieser ehemaligen Stadt etwas erfährt, und
dann immer nur durch Besuch ganz aus der Art geschlagener
Wiener, wie neulich der
Alma Mahler, die jünger und schöner ist als jemals, und
Werfel’s, eines mit ihr, wenn er nicht durch
Deutschland kutschiert, in
Venedig lebenden
Pragers, und vorige Woche
Hofmannsthals, der eine jener guten Stunden hatte, in denen er sich plötzlich auf den unbeschreiblichen
Reiz seiner geistigen Persönlichkeit besinnt, und aus der
Alt-Ausseer
Wassermännerei sich empor hebt – aber verzeihen Sie die Abschweifung, mein Herz kommt doch immer
wieder zu
Schnitzler,
Hofmannsthal und
Beer-Hofmann zurück, das Dreigestirn kann sich schon sehen lassen. Frau
Alix Leo schrieb mir neulich einen Brief, ich sollte möglichst bald meinen
Hans Ferdinand zum Kapellmeister an der
Münchner Oper ernennen. In dieser Oper zerbricht man sich fortwährend nur darüber den Kopf, wer
noch aller abgebaut werden könnte, und ich würde, abgesehen davon, daß wir beide mit
der jetzigen Leitung so schlecht als möglich stehen, sofort ins Irrenhaus überführt
werden, wenn ich an die Möglichkeit dachte, daß jemand zugebaut werden könnte. In
Deutschland irren viele hunderte glänzende Musiker herum und wer von ihnen als Dirigent in einem
Tingeltangel Unterkunft findet, preist sein Glück.
Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit, sei’s auch nur auf einer Karte, wissen, wie es Ihnen,
lieber alter Freund, der verehrten, schönen
Gattin, und den fröhlichen
Kindern immer geht – wir letzten
Wiener in der Diaspora, müssen einander ab und zu ein Zeichen geben, daß es noch, wenn
auch bloß sozusagen in der Luft, Reste einer Menschenart gibt, um die doch eigentlich
schad’ ist!
Sie alle von ganzem Herzen, das nur noch in Erinnerung an Sie noch zuweilen etwas
weniger unsicher schlägt, grüßend, hoffe ich doch noch einige Zeit zu bleiben Ihr
getreuer