Arthur Schnitzler an Marie Reinhard, 7. 11. 1896

7/11 96

Samstag Nachmittag

Meine geliebte Mizi, ich hab Dir natürlich gestern Abend geschrieben, wie alle Tage, dass dieser Brief aber nicht an Dich abgeschickt worden ist, das liegt daran – doch Du wirst es im Verlaufe der nun folgenden Chronik sehen, welche anhebt, nachdem ich Dich hunderttausend Mal geküsst habe. Noch eines vorher: Du bist nicht ganz zufrieden mit meinen Briefen - ich bin es auch mit Deinen nicht aber wir haben beide Unrecht, Mizi. Sollten wirklich ein paar geschriebene Worte u seien sie noch so superlativisch, für einen Ersatz der Nähe und der gefühlten Zärtlichkeit gelten können? Das Misverhältnis wird allzu deutlich – je heißer man sich sehnt, um so deutlicher. Darf ich hoffen, dass Du also aus denselben Gründen unzufrieden bist wie ich?–
Also die Chronik. Gestern Fischer, Erich Schmidt (nicht getroffen); Mittag gespeist mit Kerr, Hirschfeld, Jarno – Nachmittg bei Entsch und Frau, dort Nathanson (Übersetzer des verunglückten Amoriggiamenti). Abends, da ich zu meinem Stück das zum 3. Mal war, keine Lust hatte, ins Thaliatheater, wo ich 2 Akte Gebildete Menschen mitmachte
Bei Wedel (schlechtes Wiener Rest.) allein genachtm; ins Lindencafé ein paar Zeitungen gelesen – nach Hause – ausgekleidet – plötzlich fehlt meine Brieftasche Ich durchsuche Zimmer u Bett – vergeblich. Angekleidet, zu Wedel, ins Lindencafé nichts. Nach Hause. Suche, suche, reiße das Bett auseinander – nichts. 170fl und eine Menge Notizen hin.– Ich setze mich an den Tisch und schreibe Dir einen Brief zwar in großer Liebe, aber doch recht übellaunig. Dann lege ich mich nieder; lese, fahre mit der Hand zwischen Matratze u Bettgestell – plötzlich fühle ich die Brieftasche,– an einer Stelle, wo ich schon hundert Mal gesucht hatte. Ich war sehr froh und beschloss sofort, den übellaunigen Brief nicht abzusenden.– Heute früh bei Entsch (mit einem Auftrag von Ebermann), dann bei Sudermann etwa 1 Stunde; über Freiwild, über Morituri; Discussion über den »Milchbart« der mir nicht gefiel (in Teja) worin mir Frau Sudermann lebhaft beistimmte. (Er fragte mich direct nach dem Eindruck dieser Stelle.) Die getheilte Aufnahme in Wien hat ihn etwas verstimmt. In persönlichem Verkehr ist er sehr, wohl etwas allzu liebenswürdig.–
Dann bei Fulda, der herrlich wohnt; in wenigen Tagen kommt er samt Frau nach Wien, da sein Stück die nächste Première an der Burg ist.– Bei Bie Mittag; dort Kerr; Klavier. Jetzt zu Haus, wo ich u. a. häuslichem einen beinahe zärtlichen Brief von Bahr vorfand.
– Da dies, mein geliebter Engel der letzte Berliner Brief ist, sag ich Dir gleich, was ich noch vorhabe: Heute Abend Theater des Westens, dann Jonas; morgen Mittag Schlenther, Abend mein Stück. Zwischenzeiten zu Correcturen.
Montag hoff ich hier noch eine Nachricht von Dir zu haben. Und nun sag ich Dir auf Wiedersehn Dinstag um ½ 5 – kommst Du mir mit so viel Liebe entgegen als ich Dir, so müssen wir beide glücklich sein!–
Ich küsse Deine geliebten Augen tausendmal! Dein
Arthur