Hermann Bahr: [Liebelei], 12. 10. 1895

Burgtheater.

(Liebelei, Schauspiel in drei Acten von Arthur Schnitzler. Rechte der Seele, Schauspiel in einem Act von Giuseppe Giacosa. Zum ersten Mal aufgeführt am 9. October.)

In seinem neuen Stücke lässt uns Schnitzler zwei Wiener Studenten von der Art der jungen Leute aus guten Familien sehen. Sie sind, was man »recht sympathisch« nennt; dummer Streiche, die man doch ihren Jahren verzeihen würde, gewiss nicht fähig, von angenehmen und empfehlenden Manieren, überaus correcte Herren, denen es nicht einfällt, Glocken abzureißen, Laternen auszudrehen und Passanten anzurempeln. Auch hüten sie sich vor verwegenen und anstößigen Gesinnungen, haben den besten Leumund, billigen Ausschreitungen nicht, versprechen vortreffliche Unterthanen zu werden, und die Polizei möchte nur wünschen, dass alle so wären. Es braust in ihnen nichts und das ist doch bei jungen Menschen ein großes Glück. Sie thun nichts, denken nichts, wollen nichts, sondern lassen sich vom Leben treiben, ohne erst viel zu fragen, wohin, wie man in der Menge mit der Burgmusik geht, vom Takte geschoben, jetzt ein bischen schneller, jetzt langsamer, ohne was zu merken, bis der Marsch plötzlich aus ist und man nun nicht weiß, was man mit den Füßen anfangen soll, und sich verlassen und müde und so leer fühlt. Sich immer wieder irgend eine Burgmusik, die sie mitnimmt, zu verschaffen, ist ihre einzige Sorge. Sonst brauchen sie gar nichts. Leidenschaften, Begierden, Triebe sind ihnen fremd. Zuweilen gehen sie in die Vorlesung, wie man eben in die Vorlesung geht, oder sie sitzen im Café, wie man eben im Café sitzt, lesen wohl auch Romane, weil man doch diese neueren Sachen kennen muss, machen Besuche, weil man doch seine Bekannten besuchen muss, und handeln nie aus sich, sondern immer nach der Sitte; es drängt sie nie, zu thun, was man nicht thut. Sie sind ganz unpersönlich und könnten ohne Muster gar nicht sein. Sie existieren nur als Exempel der Gattung. Sie sind jetzt Studenten, wie sie vor ein paar Jahren Gymnasiasten waren und wie sie in ein paar Jahren Conceptspraktikanten und dann Gatten und mit der Zeit hoffentlich Hofräthe und wohl auch Väter sein werden, und sie sind nichts als Gymnasiasten oder Studenten oder Hofräthe, und wenn man den Gymnasiasten oder den Praktikanten oder den Hofrath von ihnen abziehen würde, würde von ihnen nichts übrig bleiben; es ist kein Wesen da. Sie können sich nicht einen Moment von dem, was sie vorstellen, isolieren. Aus sich sind sie nichts; sie bestehen nur aus Beziehungen. Sie selber lieben nicht, sie selber hassen nicht, sie selber freuen sich nicht, sie selber leiden nicht, sie selber fühlen nichts, sondern sie nehmen alle Stimmungen an, die gerade ihren Verhältnissen entsprechen. Sie haben keine Instincte, denen sie sich anvertrauen könnten; so müssen sie sich, um nur überhaupt handeln zu können, immer erst in Relationen bringen. Da sie sich selber nicht fühlen, trachten sie, sich als etwas zu fühlen: als der »Student, der mit einer Grisette geht« oder als der »Liebhaber einer Schauspielerin« oder als der »unwiderstehliche Mann«; aus dem Gefühle dieser Typen holen sie erst ihre Impulse. Jemand hat sie Fünfguldenlebemänner genannt, weil sie mit einem Taschengeld von fünf Gulden täglich das Ansehen von Viveuren zu bestreiten wissen. Auch Lebebuben hat man sie genannt, was das Unmännliche ihrer ganzen Art ausdrückt. Schnitzler hat eine besondere Vorliebe, sie darzustellen; sie müssen ihm verdächtig nahe gehen: er kommt von ihnen nicht los. Schon im »Anatol« hat er nur sie geschildert, dann im »Märchen« und nun schildert er sie mit den Mädchen, die zu ihnen gehören, wieder. Diese Mädchen sind genau wie sie: unpersönlich, ohne Leidenschaft, passiv. Sie begehren nichts, wehren sich nicht, lassen sich alles gefallen. Sie sagen nicht Ja und sagen nicht Nein und warten geduldig ab, was ihnen bestimmt ist; dagegen kann man ja doch nichts machen. Spricht sie wer an, so antworten sie gern; will er mehr, so geben sie nach; verlässt er sie, so klagen sie auch nicht. Wer weiß, wozu es gut ist! Manche hat so schon ihr Glück gemacht, andere gehen freilich zu Grunde; es triffts halt nicht jede gleich. Man muss sich bescheiden, wie’s eben kommt. Keine denkt je daran, etwas für sich vom Leben anzusprechen, das ihr allein und nur ihr und nicht der ganzen Kategorie zukommen würde. Diese Mizzis und Christins fühlen sich nie als die Mizzi oder die Christin, sondern nur so im ganzen als arme Mädchen, gerade wie jene jungen Leute, Herr Fritz Lobheimer und Herr Theodor Kaiser, sich nie als der Fritz oder der Theodor, sondern immer nur als Studenten, Praktikanten oder Lebemänner fühlen. Und so fragen sie nicht, was kommen wird, geben sich der süßen Stunde innig hin und werden jene lieben, so bequemen, niemals raunzenden Geschöpfe, die, wie der Theodor sagt, »zum Erholen da sind«, immer lachen, auch wenn man gar keinen Witz macht, und nie sich kränken, zu denen man »du Patsch« sagen darf und mit denen man nicht von der »Ewigkeit« sprechen muss.
Unter das leichtsinnige Personal dieses recht österreichischen Kreises lässt Schnitzler plötzlich das ernste Schicksal treten und da zeigt es sich denn, dass ihre beinahe türkische Ergebenheit und Demuth ihnen gar nichts nützt und, wenn sich die Menschen auch noch so klein und bescheiden machen, das Leben doch groß und furchtbar bleibt. Der Fritz, der daneben auch mit einer Frau eine »Bandelei« hat, wird von dem Gatten im Duell erschossen und nun thut sich die ganze Verlogenheit dieser so gemüthlichen Existenzen auf: die Liebelei endet, als ob sie eine Leidenschaft wäre, und das Mädchen, die Christin, muss erfahren, wie wenig sie ihm gewesen; indem er an einer Lüge stirbt, wird sie inne, dass sie von einer Lüge gelebt hat. Sie war doch gar nichts für sich, sondern nur für ihn da: selber gar kein Wesen, sondern nur seine Geliebte, nichts als seine Geliebte; und nun wird es offenbar, dass sie auch das nicht war, nicht einmal das. Sie hat nur von einer Beziehung gelebt und auch diese bildete sie sich nur ein. Und so ist ihr ganzes Leben dahin! »Er ist für eine andere gestorben! für eine Frau, die er geliebt hat – ihr Mann hat ihn umgebracht! Und ich – was bin ich denn? Was war denn ich? Was bin denn ich ihm gewesen?« Diese Klage hat einen so innigen und echten Ton, dass man merkt, sie kommt dem Autor vom Herzen; das sehr wienerische Elend, an dem Leben so daneben vorbeizuleben, hat er, das vernimmt man, wohl an sich selbst gespürt.
Das Stück sagt also: »Seid selber etwas! Seid so viel, dass, wenn man euch auch das Amt, die Liebe, alle Beziehungen nimmt, in euch selber immer noch genug bleibt! Lebt, statt euch bloß leben zu lassen!« Das wird von ihm sehr wahr und gerecht, auch mit einer freilich mehr feuilletonistischen als dramatischen Anmuth und nicht ohne einen gewissen Geist gelehrt. Die Führung der Scenen ist oft geschickt, glückliches Detail ergötzt, hübsche Worte fehlen nicht, es ist eine saubere, anständige und brave Arbeit, und so wäre man nicht abgeneigt, von Schnitzler zu sagen, was Laube einmal über Bauernfeld schrieb: »Jedenfalls ist es für die Theaterdirection ein Glück, wenn in ihrer Stadt ein producierendes Talent sich entwickelt, welches in gebildeter Weise und außerhalb der alltäglichen Routine die neuen Lebenselemente der Stadt dramatisiert.« Nur darf man nicht verschweigen, dass er vorderhand noch nicht soweit ist. Er weiß die neuen Elemente unserer Stadt zu fühlen, auch zu schildern; »dramatisieren« kann er sie noch nicht. Man dramatisiert Zustände, indem man Menschen in sie bringt, die sich ihnen widersetzen; dort, wo sich die Menschen mit den Dingen entzweien, fängt das Drama erst an. Aber seine Menschen, die nichts wollen, sitzen unbeweglich in ihren Zuständen drin, wie Chamäleons, die immer die Farbe ihrer Umgebung haben; so kann man sie nicht sehen, sie bleiben grau, traurige, aber nicht tragische Personen, und er scheint nicht zu wissen, dass der Mensch erst, wenn er sich aus seinem Boden löst, von den anderen abhebt und seine eigene Farbe annimmt, dass er im Streite und durch die That erst dramatisch wird. Das hat er noch zu lernen.
Das Schauspiel war schlecht insceniert; das wienerische Wort ist hier am Platze: schlampert. Die Schauspieler standen immer im Rudel um den Souffleur, ohne je zu einer natürlichen Gruppe, zu einem ruhigen Bilde zu kommen. Die angenehme Laune des ersten Actes wurde durch eine forcierte und ungemüthliche Lustigkeit mit Gepolter und Tapage gestört. Dem lieben Stübchen der Christin im zweiten, das hier eher einer Manège glich, fehlte jede Stimmung; ein »Kanari«, eine Nähmaschine, ein Spinett hätten dazu genügt und wenn man schon selber keinen Gedanken hatte, brauchte man doch nur das fünfte Bild vom »Nazi«, wo dieselbe Situation sehr lieblich dargestellt wird, nach dem Wiedener Theater zu copieren. Eine stille Lampe schien heller, als je die Sonne scheint, und wie dann der Mond kommen soll, wurden die Liebenden in einem lächerlich grasgrünen Lichte komisch. Alle Stellungen, Bewegungen, Beleuchtungen waren falsch. Durch diese saloppe Regie wurden auch die unbeschreibliche Größe, Gewalt und Pracht der Sandrock und die köstlichen Gestalten der Herren Zeska und Kutschera beschädigt.
Vor der »Liebelei« wurde, fein und intim insceniert, ein Act von Giuseppe Giacosa gespielt, »Rechte der Seele«, deutsch von Otto Eisenschitz, der letzte Act einer Tragödie zwischen Gatten, dem nur leider die nothwendigen Voraussetzungen und Vorbereitungen fehlen: so stört allerhand Exposition, die bereits erledigt sein müsste, da hier keine Zeit mehr ist, auch hat der Hörer Mühe, so geschwind von selber in die Stimmung zu kommen, die von ihm verlangt wird, und daher mag an dem Stoffe manches gekünstelt und erklügelt scheinen, das doch sehr wahr und lebendig ist. Herr Hartmann spielte eine heikle Rolle mit Verstand, Geschmack und einer behutsam lenkenden Routine. Frau Hohenfels gefiel den Leuten sehr, mir gar nicht: ganz subtile, verschämte und geheime Sachen schrie sie mit Gewalt ins Parterre; aber da es wirkte, hatte sie ja recht.
Hermann Bahr.