Hermann Bahr: Der Schleier der Beatrice, 5. 12. 1900

Der Schleier der Beatrice.

(Schauspiel in fünf Acten von Arthur Schnitzler. Zum ersten Male aufgeführt am Breslauer Lobe-Theater am 1. December 1900.)

Schnitzler ist einige Zeit in sein Thema vom Anatol und vom süßen Mädel so verliebt gewesen, daß man schon fast befürchten mußte, er werde gar nicht mehr loskommen können und bald in Manier gerathen. Für einen jungen Autor ist es immer eine Gefahr, wenn er durch einen glücklichen Griff ins Leben das Publicum rasch gewinnt. Der junge Autor tritt auf, sieht sich neugierig um, erblickt Gestalten, erblickt Verhältnisse, die noch nicht dargestellt worden sind, ergreift sie, weiß ihnen ihre Form zu geben – und der große Erfolg ist da. Das Publicum beeilt sich, ihn in eine Rubrik zu bringen: es weiß jetzt, was es von ihm zu erwarten hat – er hat das sehr hübsch gemacht, wir wollen also bei ihm bleiben, er soll sozusagen der Lieferant sein, von dem wir die süßen Mädeln beziehen. Für ihn ist das natürlich eine starke Verlockung, denn er könnte ohne Mühe, ohne eigentlich productiv zu sein, indem er nur jene Gestalt oder jenes Verhältniß wieder von einer anderen Seite oder in einem anderen Lichte zeigt, jedes Jahr mit einem neuen Werke erscheinen und darf der Wirkung, die er ja schon erprobt hat, gewiß sein. Dabei wird ihm die Behandlung immer leichter werden, er wird sich rasch einer ganz sicheren Technik bemächtigen, und bloß durch Verstand und Energie, ohne sich schöpferisch aufzuregen, weil er ja eigentlich immer nur sein erstes Werk reproducirt; wie ein Schauspieler, der eine einmal im heiligen Rausche gefühlte, mit der wildesten Erregung erfaßte Rolle nun jeden Abend gelassen wiederholt, kann er sich den Anschein einer unermüdlichen Begabung geben. Dabei begibt es sich nur freilich, daß seine innere Kraft allmählich versiegt, und bevor er es noch selbst merkt, ist sein Talent zur Routine geworden. Das hat Schnitzler noch zur rechten Zeit gefühlt und, inneren Warnungen gehorsam, die Krise mit einem Muthe bestanden, der unter unseren, leicht vom Erfolg bethörten Autoren selten ist. Man sollte nun meinen, schon ein solches Streben allein müßte auf die Theilnahme, ja Bewunderung des Publicums rechnen können. Das Publicum hat doch schließlich das größte Interesse daran, daß jeder bei uns wirkende Autor zur höchsten Entfaltung seiner Kräfte gelange. Jeder Autor ist ja ein Capital, das das Publicum glücklich anlegen oder schlecht verwalten kann. Was es trägt, kommt dem Publicum zu, und wenn es vergeudet wird, ist die Stadt, ist das ganze Land dadurch ärmer geworden. Es ist seltsam, daß bei uns die Behörden, welche den geistigen Reichthum, die öffentliche Kraft der Nation zu verwalten hätten, dies nicht zu bemerken scheinen, und daß das Publicum, welches doch am Gedeihen oder Verderben der Talente unmittelbar betheiligt ist, eher eine gewisse Schadenfreude hat, jede Kraft abzuschwächen. Ich habe neulich erzählt, wie sich, als Girardi den engen Kreis liebenswürdig wienerischer Figuren verlassen wollte, um höhere Aufgaben anzustreben, förmlich die ganze Stadt gegen ihn verschwor, und leider scheint es Schnitzler bestimmt zu sein, jetzt dasselbe zu erleben. Er strebt über seine Anfänge hinaus; er fühlt, daß er mehr kann; er will nicht ruhen, bis er die großen Entschlüsse, deren er in reinen Stunden theilhaftig geworden, durch ein Werk erreichen wird. Man sollte meinen: Alle Oesterreicher müßten dabei sein, ihm mit Leidenschaft zu helfen, es ihm zu erleichtern, ihn wie einen Läufer vor dem Ziel durch Zuruf zu befeuern. Sein Erfolg wird ja doch schließlich unser Ruhm sein: denn jedes Werk, das Einem unter uns gelingt, dient zur Ehre des österreichischen Namens, und je höher sich der Einzelne erheben darf, desto größer stehen Alle vor den Nationen da. Bei uns aber sind Haß und Neid so stark, daß wir uns lieber Alle erniedrigen, als es irgend Einem zu gönnen, daß er zur Reife gelange. Das ist ja leider nichts Neues: man lese über die Première von Bauernfeld’s »Fortunat« oder von Grillparzer’s »Weh’ Dem, der lügt« nach – immer haben sich die Oesterreicher mit Erfolg bemüht, jedes Talent an seiner ganzen Entfaltung zu verhindern, bis es klein und scheu geworden ist und sich in seinem nächsten Kreise beschieden hat.
Schnitzler hätte ein Virtuose wienerischer Zierlichkeit und Zärtlichkeit werden können. Es hat ihm nicht genügt. Er hat sich edlerer Aufgaben würdig und fähig gefühlt. Er hat um sie mit reiner Leidenschaft gerungen. Er hat sie endlich in einem Werke erfüllt, das, künstlerisch und menschlich, Alles weit übertrifft, was er jemals geschaffen. Und siehe da, auf einmal geht Alles gegen ihn los, er sieht sich von Spott und Bosheit umringt, es ist geradezu, als wollte man sich an ihm rächen, als könnte man es um keinen Preis dulden, daß Einer unter uns groß wird. Läßt er sich aber ducken, gibt er nach und verzichtet auf sich selbst, dann werden dieselben Leute, die jetzt gegen ihn hetzen, hochmüthig bedauern, er habe doch nicht ganz gehalten, was er versprochen, und sei doch zur vollen Entwicklung nicht gekommen. Es ist schon ein Vergnügen, in Oesterreich ein Dichter zu sein.
Ich halte die Beatrice für das reifste und reichste Werk, das Schnitzler noch geschaffen hat, weil es von allen kleinen Neigungen und Launen, die ihn sonst bedrohten, frei und rein ist. Seine anderen Werke scheinen mir eine falsche Perspective zu haben: sie nehmen die nächsten Beziehungen, von welchen sich ein wohlhabender junger Wiener unserer Zeit umgeben sieht, für wichtiger und ernster, als diese, menschlich genommen, doch wohl eigentlich sind. Für jeden Menschen mag es ja das Schwerste sein, sich durch die vielen Empfindungen und Stimmungen, die der Tag gibt und nimmt, nicht verwirren zu lassen, sondern sich allmählich doch zu besinnen, was denn eigentlich für ihn Lust und Leid, ja den wahren Werth des Lebens ausmacht, und nun alles Andere abzuwerfen, dies aber fortan mit ganzer Seele zu vertheidigen. Den Jüngling reizt es, zu erfahren, wie bunt das Leben ist, und so rennt er jedem Abenteuer nach. Aber der Mann verlangt zu wissen, was denn eigentlich am Leben selber ist; er hat nicht mehr die Zeit, leichtsinnig das große Schauspiel zu bewundern; er fragt besorgt nach dem Ende, er fragt um den Sinn, und sein Gewissen regt sich. Er will Ordnung machen und erkennen, was unsere Bestimmung sei und wie sie sich zeige. Was ist das Wesentliche an einem Menschen? Wie er ist, werden die Einen antworten. Was er thut, meinen die Anderen. Die Lyriker glauben das Leben auszusprechen, wenn sie sagen, was ein Mensch dabei empfindet. In Zeiten von großer Kraft und Leidenschaft wird eine dramatischere Anschauung lebendig: An Gefühlen können sich zwei Menschen gleichen – ob sie die Macht haben, ihr inneres Gefühl dem äußeren Leben aufzudrücken, also das Werk, die That sei es, die ihren Werth erst bestimmen. Doch die Weisen, die das Gewirr und Gewühl der Welt einmal von der Höhe angesehen haben, glauben zu bemerken, daß gar nicht, was Einer ist, und nicht, was er thut, sondern allein, was er leidet, sein eigentliches Wesen enthält. Es kommt, um das Geheimniß eines Menschen zu begreifen, gar nicht darauf an, was er bei sich an zärtlichen oder zornigen, stillen oder stolzen, sanften oder starken Gefühlen hegt, und auch nicht, was er wollend und handelnd verrichtet hat, sondern was sich mit ihm begibt, was ihm geschieht, ist es, das ihn von allen anderen abtrennt. Durch sein Geschick wird erst offenbar, was an einem Menschen ist; hier kann er sich erst zeigen: wie Einer sein Los besteht, daran erkennen wir, was er werth ist. Schon im einfachsten und doch größten Verhältniß des Lebens, dem der Geliebten zum Manne, wird es uns fühlbar, wie gering doch an unserem Glück oder Unglück unser eigener Antheil ist. Derselbe Mann wird in jedem Verhältniß zu einer anderen Frau ein Anderer sein; ja derselbe Mann, selbst wieder mit derselben Frau verbunden, aber anderen Zufällen ausgesetzt, wird sich ganz verwandelt zeigen. Unsere Schuld, unser Verdienst scheint gar nicht bei uns selbst, sondern draußen zu liegen. Darum treten in den tiefsinnigen Märchen der Orientalen die Menschen mit solcher Demuth auf, geängstigt fühlend, daß unsere Absicht, unsere That über das Leben nichts vermag, sondern es beim Schicksal ist, uns auszuzeichnen oder zu verwerfen. Daher auch die ganz andere Psychologie, die wir dort finden: um einen Menschen zu charakterisiren, geben sie nämlich nicht seine Eigenschaften oder Wünsche oder Handlungen an, sondern erzählen uns, was sich mit ihm begeben hat, indem sie dies gleichsam für den Schatten nehmen, den ein Mensch wirft, je nach dem Lichte, das er gerade hat.
Es scheint mir nun die eigentliche Bedeutung der Beatrice zu sein, daß Schnitzler hier die Handlung nicht, wie sonst unsere Autoren thun, aus den Charakteren abzuleiten sucht, aber sie auch nicht dem Zufall überläßt, sondern förmlich als zu den Charakteren gehörig, als ihre Ergänzung in der äußeren Welt, als eine mit ihnen geborne Bestimmung darstellt, die wir zu ihren Eigenschaften hinzurechnen müssen, um erst die Summe ihres Wesens zu erhalten. Wir fragen: Wie ist dieser Mensch? Darauf antworten sonst unsere Autoren: er sieht so und so aus, hat den und den Gang, die und die Stimme, denkt so, fühlt so und handelt so. Schnitzler antwortet hier: es ist ein Mensch, der das und das erlebt! Und seine ganz merkwürdige Kunst zeigt sich nun darin, daß uns diese Antwort mehr sagt, als alle Beschreibungen und Erklärungen könnten. Dies ist nicht neu – man denke nur an Shakespeare. Aber die neuen Autoren hatten es verloren. Ich denke: nachdem er es jetzt wiedergefunden hat, wird es bald überall in der Literatur zu spüren sein.
Der Dichter Filippo Loschi ist mit der Gräfin Teresina Fantuzzi verlobt, der Schwester seines Freundes Andrea. In einer wilden Stunde wird er von seinen Sinnen so bethört, daß er sie, am Bette ihrer sterbenden Mutter, mit gierigen Wünschen überfällt, mit heißen Worten, »jedes so verrucht und wild, wie man sie Mädchen zuraunt in der Schänke«. Sie stößt ihn weg, er geht erzürnt, und wie er so im Taumel vor die Stadt rennt, trifft er ein Mädchen, noch ganz jung, kaum von den ersten Ahnungen der Lust berührt. Beatricen, die Tochter eines Wappenschneiders. Er wirbt um sie, sie ergibt sich sogleich, und nun versinken die Beiden und wissen nichts mehr und haben die Welt vergessen. Bologna ist bedroht, Gerüchte schwirren, der Herzog, der seit einem Jahre fort ist, sei ermordet; Verräther lauern, und Cesare Borgia rückt heran. Die Beiden aber achten es nicht; die Welt steht in Flammen – sie denken nur an sich. Da begibt es sich, daß, als der Herzog endlich wiederkehrt und durch die Straßen reitet, er Beatricen sieht. Ihr ist schwül, sie geht auf ihre Stube und schlummert ein. Es träumt ihr, Herzogin zu sein, und, erwachend, tief verwirrt, bekennt sie dem Geliebten, wie seltsam süß es ihr gewesen, im Traum des Herzogs Augen über sich leuchten zu sehen und seine Lippen zu spüren. Filippo schreit auf. Sie sieht ihn befremdet an – es war doch nur ein Traum! Er aber, von Grauen und Ekel tief erfaßt, ruft aus:
Und er jagt sie fort. Sie kehrt heim, und ihr Bruder, der Soldat Francesco, beredet sie, sich mit dem jungen Vittorino zu vermälen. Wie sie mit diesem zur Kirche geht, begegnet sie dem Herzog. Der Herzog wird sich morgen mit dem Borgia messen, und er weiß, daß dieser siegen wird. Nun will er noch einmal, in dieser letzten Nacht, das Glück umarmen. Er trägt ihr seine Liebe an. Sie weigert sich; sie läßt sich nicht kaufen, auch nicht um hohen Preis: »Behaltet Alles, Herr, es nützt mir nichts, doch nehmt zur Gattin mich!« Die Höflinge fahren höhnisch auf, aber der Herzog, ein ruhiger Gebieter, der »an jedem Tag sein Leben trinkt aus tausend klaren Quellen – Und jede weckt den Durst und jede löscht ihn – Ihn drückt der Stunde Last niemals zu schwer und nie so leicht, daß er sich fliegen däuchte!« – dieser Mächtige, von so seltsamem Wesen gefesselt, erwidert ihr:
Doch wie nun das Fest beginnt, wird plötzlich das Gemüth der armen Braut an den verlassenen Geliebten so gemahnt, daß sie entflieht, um sich mitten in der Nacht zu ihm zu stehlen:
Filippo fragt: Und warum bliebst Du nicht? Warum entflohst Du?
Sie antwortet:
Da nun aber der Dichter mit ihr sterben will, ist sie feige: des Lebens Zauber faßt sie an, es graut ihr vor dem Dunkel. Filippo tödtet sich, sie irrt an den Hof zurück. Hier hat man sie schon vermißt, der Herzog ist argwöhnisch, er fragt sie, sie lügt, der bei Filippo vergessene Schleier verräth sie, Alles kommt auf. Von namenloser Angst für ihr Leben gepeinigt, will sie dem Herzog gehorchen und den Schleier holen. Er geht mit ihr und steht nun an der Leiche des geliebten Dichters, durch so verworrenes Schicksal tief besorgt:
Er will ihr verzeihen, da stößt ihr rascher Bruder ihr den Dolch ins Herz. Boten kommen, zu melden, daß draußen sich schon Alles von Gerüsteten regt. Der Herzog wendet sich zum Kampf:
Glocken ertönen von allen Thürmen:
Dieser berückende Act, mit seiner ungeheuren Erhebung des Tones aus dem Traurigen bis zum Tragischen, mit seinem tiefen Grauen vor dem Unbegreiflichen, das uns rings umgibt, mit seiner frommen Ergebung ins menschliche Geschick, ist weitaus das Größte, das Schnitzler noch geschaffen hat, und gehört zum Schönsten, das jemals einem Dichter unserer Zeit geschenkt worden ist.
Hermann Bahr.