Hermann Bahr: [»Der zerbrochene Krug« und »Der grüne Kakadu«], 15. 10. 1905

Deutsches Volkstheater.

Der zerbrochene Krug« von Kleist. »Der grüne Kakadu« von Arthur Schnitzler. Am 14. Oktober 1905.)

Der alte Schauspieler Genast erzählt vom »Zerbrochenen Krug« in Weimar, am 2. März 1808: »Bei der Aufführung dieses Stückes ereignete sich ein Vorfall, der in dem kleinen Weimarschen Hoftheater noch nie dagewesen und als etwas Unerhörtes bezeichnet werden konnte: ein herzoglicher Beamter hatte die Frechheit, das Stück auszupfeifen. Karl August, der seinen Platz auf dem sogenannten bürgerlichen Balkon hatte, bog sich über die Brüstung heraus und rief: ›Wer ist der freche Mensch, der sich untersteht, in Gegenwart meiner Gemahlin zu pfeifen? Husaren, nehmt den Kerl fest.‹ Dies geschah und er wurde drei Tage auf die Hauptwache gesetzt. Den anderen Tag soll Goethe gegen Riemer, der es mir mitteilte, bemerkt haben: Der Mensch hat gar nicht so unrecht gehabt; ich wäre auch dabei gewesen, wenn es der Anstand und meine Stellung erlaubt hätten. Des Anstandes wegen hätte er eben warten sollen, bis er außerhalb des Zuschauerraumes war.« Man weiß auch sonst, daß Goethe in kein Verhältnis zu Kleist kommen konnte, an dem ihm »die nordische Schärfe des Hypochonders und die Gewaltsamkeit der Motive« unerträglich war. »Ich habe ein Recht,« hat er einmal gesagt, »Kleist zu tadeln, weil ich ihn geliebt und gehoben habe; aber sei es nun, daß seine Ausbildung, wie es jetzt bei vielen der Fall ist, durch die Zeit gestört wurde, oder was sonst für eine Ursache zum Grunde liege; genug, er hält nicht, was er zugesagt. Sein Hypochonder ist gar zu arg; er richtet ihn als Menschen und Dichter zugrunde. Sie wissen, welche Mühe und Proben ich es mir kosten ließ, seinen ›Wasserkrug‹ aufs hiesige Theater zu bringen. Daß es dennoch nicht glückte, lag einzig in dem Umstande, daß es dem übrigens geistreichen und humoristischen Stoffe an einer rasch durchgeführten Handlung fehlt.« Und ähnlich ein anderes Mal zu Riemer, sich über die eigensinnigen und eigenwilligen Neuen von Kleists Art beklagend: »Sie meinen, außer dem Rechten gäbe es noch ein Rechtes, ein anderes Rechtes, das hätten sie. Wie wenn es außer dem Schwarzen in der Scheibe noch eins gäbe, und da schießen sie denn ins Blaue.« Womit er übrigens nur das allgemeine Gefühl seines ganzen Kreises aussprach. So schrieb Fräulein v. Knebel an ihren Bruder: »Ein fürchterliches Lustspiel, was wir eben haben aufführen seh’n und was einen unverlöschbaren unangenehmen Eindruck auf mich gemacht hat, und auf uns alle, ist der ›Zerbrochene Krug‹ von Herrn von Kleist in Dresden, Mitarbeiter des charmanten ›Phöbus‹. Wirklich hätte ich nicht geglaubt, daß es möglich wäre, so was Langweiliges und Abgeschmacktes hinzuschreiben. Die Princeß meint, daß die Herrens von Kleist gerechte Ansprüche auf den Lazarus-Orden hätten. Der moralische Aussatz ist doch auch ein böses Uebel.« Kleist gab das Mißgeschick selbst zu, als er in den »Phöbus« ein Fragment aus dem Stücke setzen ließ, mit der resoluten Bemerkung: »Da dieses kleine, vor mehreren Jahren zusammengesetzte Lustspiel eben jetzt auf der Bühne von Weimar verunglückt ist . . . « Er konnte nur freilich nicht ahnen, daß es dabei bleiben sollte: indem sich das Stück allmählich im stillen immer dankbarere Leser gewann, fuhr es im Theater bei den Zuschauern zu »verunglücken« fort. Eigentlich bis heute. Laube erzählt in seinem Burgtheater: »Noch in einer anderen komischen Richtung versuchte ich das Repertoire zu erweitern. In der Richtung nach Norden, möchte ich sagen. Heinrich v. Kleists ›Zerbrochener Krug‹ gehört ganz zur nordischen Komik. – Heinrich v. Kleist stand lange auf der Senatorliste unserer großen Poeten. Man meinte, es müsse alles dafür getan werden, dem Publikum begreiflich zu machen, daß ihm einer der nächsten Sessel nach Schiller und Goethe eingeräumt werde. Ich war selbst dieser Meinung und hatte vor, all seine Dramen in Szene zu setzen. Zuerst brachte ich den ›Zerbrochenen Krug‹, der hier nie gegeben worden; eigentlich ohne Erfolg. Er erschien zu nordisch, zu kalt, zu gedacht, zu abstrakt. Mehr Komik für den Denker, als für den Zuschauer. Der Unterschied unserer deutschen Landsmannschaften zeigt sich da sehr deutlich. Die märkische Landsmannschaft, zu welcher Kleist gehörte, findet das Stückchen ihrem Geschmacke zusagend, sie folgt ihm mit Behagen. Döring gibt auch den Dorfrichter Adam viel cynischer, schärfer und frecher als La Roche, und die Döringsche Charakteristik entspricht dem märkischen Grundtone. Die norddeutsche Komik steht eben der Kaustik viel näher, als die süddeutsche. Aber auch im Norden mußte dieser durch die Romantiker berühmt gewordene ›Krug‹ gestrichen werden bis auf die Knochen. Er ist viel zu breit für die Szene. Und dem Süddeutschen ist ein Körper ohne Fleisch ein mißlich Ding.« In Wien hat er in der Tat eigentlich niemals gewirkt. Auch in München nicht, sogar bei Dingelstedts Mustervorstellungen von 1854 mit Döring kaum. Eigentlich also nur in Berlin, so lange Döring den Dorfrichter gab. Dann auch nicht mehr. Erst neulich noch, als er im Kleinen Theater wieder versagte, hat Siegfried Jacobsohn verzeichnet, es habe sich »die über alle Begriffe herrliche Komödie seit Dörings Tode auf keiner Bühne behaupten können«. Warum? Ein von allen bewundertes Stück, das überall durchfällt. Es muß doch einen Grund haben. Laube spricht auch in seinem Stadttheater einmal über das Stück. Und da sagt er einen sehr merkwürdigen Satz: »Selbst der ›Zerbrochene Krug‹, in der Schmidtschen Verkürzung von Döring meisterhaft dargestellt in der Figur des Richter Adam, ist ganz selten geworden im Repertoire. Anderswo hat er nie festen Fuß fassen können, weil man seine Komik, die Komik der Voraussetzungen, zu spitz fand für die Bühne. Diese Komik bringt es mit sich, daß man nachträglich lacht, im Theater aber will man auf der Stelle lachen.« Dies scheint mir das Wesen der Kleistschen Charakteristik zu enthalten, welcher sich der Zuschauer, auch im Tragischen, immer erst nachher durch Reflexion bemächtigen kann, während es dramatisch ist, sie uns unmittelbar aufzudrängen. Er braucht also Schauspieler, die dem Zuschauer sogleich bringen, was ihm dieser Dichter immer erst am Ende, erst bei einer inneren Revision zu Hause gibt, indem sie vorweg aus Eigenem spielen, was er erst zuletzt durch einen langwierigen Prozeß als Resultat gewinnt. Wir haben im »Krug« immer am Ende das Gefühl: würde er uns jetzt gleich noch einmal vorgespielt, so könnten wir erst lachen. Er braucht also Schauspieler, die fähig sind, uns durch irgend eine geheime Macht, was der Dichter versäumt, gleich schon vorempfinden zu lassen, noch bevor es sich aus der Handlung ergibt, die so dramatisch ist als die Darstellung ihrer Menschen undramatisch. Tieck muß dies schon gemerkt haben. Er sagt in den dramaturgischen Blättern einmal: »Kleists Dramen geben dem Schauspieler große Veranlassung, seine Kunst zu zeigen, aber zugleich gehört es zu den allerschwierigsten Aufgaben, sie befriedigend oder auch nur so aufzuführen, daß die Absichten des Dichters nicht ganz verloren gehen. Alle diese Charaktere müssen sehr scharf umrissen werden, das Kolorit ist grell und beides, Umriß und Farbe, verschwindet zu Zeiten beinah wieder ganz, und dem Schauspieler ist die Ergänzung, gewissermaßen die Schöpfung, unbedingt anvertraut.« Deutlicher ausgedrückt: man hat bei Kleists Gestalten immer das Gefühl, daß der Dichter ihren »Charakter« eben durch den dramatischen Verlauf nur erst sucht; und wir müssen mit ihm suchen, und wenn er ihn endlich gefunden hat, ist das Stück schon aus, es endet mit seiner Entdeckung. Bei Shakespeare auch, wird man vielleicht sagen. Ja, aber anders: Shakespeare deckt im letzten Akt auf, als jetzt für den Verstand bewiesen, was wir mit dem Gefühl schon in der ersten Szene geheimnisvoll antizipiert haben. (Worin Shakespeare wie das Leben ist, unser Leben selbst, das auch nichts anderes mit uns tut.) Und eben dies, was Shakespeare vor Kleist voraus hat, diese magische Macht, uns sogleich fühlen zu lassen, was uns die dramatische Begebenheit dann erst an den Gestalten erkennen läßt, muß diesem, wenn er wirken soll, der Schauspieler geben. Ich weiß freilich heute nur drei, welchen ich es für den »Krug« zutrauen kann: Novelli, Kainz und Girardi.
Was ich am »Grünen Kakadu« immer wieder bewundere, ist, daß er ganz unmittelbar auf uns und doch keinen Augenblick als Kostüm wirkt. Sonst sagt man sich bei »historischen« Stücken entweder: Aha, er meint uns, er hat uns nur verkleidet, aber wir sind’s, uns geht es an, unser Fall wird verhandelt. (Bei Shakespeare, Goethe, Schiller immer.) Oder man weiß gleich, daß eine Vergangenheit gezeigt werden soll, mit Gedanken, die wir nicht mehr denken, Gefühlen, die uns fremd geworden sind, Menschen, die wir nicht mehr haben. Schnitzler trifft es wunderbar, beides zu verbinden: das »Echte« mit unserem neuen Gefühl. Niemals empfinden wir das als »Kostüm«, wir sind sogleich in jene große Zeit entrückt. Wir spüren: Diese waren anders, keiner ist heute so, unser Leben hat diese Form nicht mehr. Und spüren doch ihre Leidenschaft als unsere und spüren zugleich fast einen geheimen Wunsch, ihre Vergangenheit zu unserer Zukunft zu machen. Es ist Geschichte, ja, aber lebendige, aus der noch Funken in unsere Wünsche springen.
Herr Höfer, dieser so kluge, so geschickte, nur nicht drastische Künstler, gibt den Adam sehr fein, ohne ihm freilich jene positive Komik zuzuschießen. Lustig ist die Marthe der Frau Thaller, von angenehmer Frische der Ruprecht des Herrn Birron und in die ganze Vorstellung bringt Herr Vallentin, der neue Regisseur, ein Tempo und einen Zug, die man sonst in diesem Theater nicht kannte. Man spürt seine starke Hand auch im »Kakadu«, der, von den Damen Lißl und Ritscher, den Herren Kramer, Jensen und Birron vortrefflich dargestellt, das Publikum in einen Taumel und Tumult riß, wie man hier lange, lange, keinen vernommen hat.
Hermann Bahr.