Hermann Bahr: Der Grillparzerpreis, 23. 1. 1902

Der Grillparzerpreis.

Von Hermann Bahr (Wien).

Der Grillparzerpreis wird für das »relativ beste« Stück verliehen, das in den letzten drei Jahren an einer »namhaften« deutschen Bühne gegeben worden ist. Er wurde diesmal Hartleben für den »Rosenmontag« zugeteilt. Darüber ist man nun in Wien in einiger Verlegenheit: denn man findet die Entscheidung doch eigentlich »zu dumm«, will aber nichts gegen sie sagen, weil man Hartleben sehr gern hat.
Hartleben ist bei uns sehr beliebt, mehr als irgend ein anderer deutscher Autor. Er hat Goethe herausgegeben, seine Verse haben eine rein ausgefeilte Form – das sagt dem Germanisten zu, der in jedem gebildeten Oesterreicher steckt. Er verhält sich kritisch zur Gesellschaft, ihre Größen imponieren ihm nicht, ihre Gebote verspottet er, er ist auch ein »Verschimpfer«, wie Bauernfeld sich einmal stolz genannt hat – das behagt unserem ewig räsonnierenden, gern verneinenden, mißvergnügten Geiste. Er muß endlich jedem Artisten gefallen, weil er auf allen Seilen der Technik, fast wie ein Franzose, tanzen kann – und alle Wiener schmeicheln sich, Artisten zu sein. Auch ist er oft in Wien gewesen, und seine ganze unfeierliche, studentische Art, die jeden gleich duzt, ist uns lieb. Er bringt immer eine angenehme Salvatorstimmung mit, er ist ein Maupassant, mit dem man zechen kann. Der Wiener aber verlangt von Dichtern stets, daß sie ins Winterbierhaus passen. Dazu kommt, daß gerade der »Rosenmontag« alle Qualitäten hat, die der Wiener an einem guten Stücke wünscht: er sieht so aus, als ob er eigentlich verboten werden müßte, und ist doch in jedem Hoftheater möglich, so stark, daß er prickelt, und doch harmlos; er thut modern und hat doch die gute, alte herzzerbrechende Handlung; und er hat Rollen, in welchen sich die Schauspieler auszeichnen können. Dafür muß man dankbar sein, und so wird man gegen seine Berufung zur höchsten litterarischen Ehre, die der Oesterreicher zu vergeben hat, öffentlich nichts sagen. Aber –
Aber man ärgert sich. Man ärgert sich, weil man die Empfindung hat, es sei dadurch der eigentliche Sinn dieses Preises verletzt worden, und weil man einen besseren Kandidaten für ihn zu haben glaubt. Man ärgert sich und muß doch dabei lachen, weil es der Zufall will, daß dieser andere Kandidat aus einem Grunde ausgeschlossen worden ist, der Hartleben und gerade den »Rosenmontag« ganz ebenso trifft.
Welchen Sinn kann es haben, unter den vielen Stücken, die in drei Jahren mit Erfolg gegeben worden, eines durch einen Preis auszuzeichnen? Doch offenbar nur den: das Urteil der Menge zu korrigieren. Aufgeführt werden Stücke aller Art, gute und schlechte, von Dichtern und von Fabrikanten. Wir wissen, daß der Wert eines Stückes mit seinem Erfolge gar nichts zu thun hat. Ganz schlechte Stücke gefallen sehr, aber es kommt sogar vor, daß auch einmal ein gutes gefällt. Nach dem Erfolge weiß man also noch gar nichts über ein Stück, über einen Autor. Woran soll sich nun das Pulikum halten? Es fühlt selbst, daß die Zahl der Aufführungen nichts bedeutet, und daß es ungerecht wäre, den Wert eines Stückes nach den Tantiemen zu berechnen, die es trägt. Es findet ferner, daß man sich auch auf die Presse nicht verlassen kann, weil ihr Urteil dem Spiele von Haß und Liebe nicht immer entrückt sein soll. Es hat also das Bedürfnis nach einer »höheren Instanz«, die sich durch den Lärm nicht betäuben, von der Laune der Menge nicht hinreißen läßt, sondern auf die Sache selbst hört und also fähig ist, auszugleichen und gut zu machen, was der Zufall verschuldet hat, vielleicht sogar mit einer leisen Absicht gegen diejenigen, die Glück haben.
Es hätte es darum zum Beispiel ganz in der Ordnung gefunden, wenn man nach der »Erziehung zur Ehe«, welche die Kenner entzückte, ohne die Menge anzuziehen, Hartleben durch einen Preis mit dem stärkeren Erfolge vieler schlechter Stücke ausgesöhnt hätte. Es nimmt ihm keineswegs übel, daß er beim »Rosenmontag« einmal den Forderungen und Bedürfnissen der Menge etwas nachgegeben hat; es begreift, daß auch ein Dichter einmal einen Erfolg haben will, selbst auf seine Kosten. Aber warum er für diesen Erfolg, gerade für ihn, auch noch litterarisch besonders belohnt werden soll, will es nicht einsehen. Das Gericht, meint es, könnte sich dann eigentlich die lange Arbeit ersparen und einfach sagen: Wer sich ausweisen kann, in den letzten drei Jahren die höchsten Tantiemen verdient zu haben, soll noch etwa fünftausend Kronen dazu bekommen.
Und nun hatten wir einen Kandidaten, für den uns gerade eine solche Korrektur des Glücks, in welcher allein wir den Sinn eines litterarischen Preises sehen können, gerecht und notwendig schien: Schnitzler. Schnitzler hat sich in den letzten drei Jahren ganz merkwürdig entwickelt. Er hat viel mehr gehalten als er versprach. Er hätte es leicht gehabt, durch sein glänzendes Talent zu verblüffen und bethören. Es ist ihm aber wichtiger gewesen, sich rein und ruhig auszubilden. Wir haben kaum einen, der ernster an sich gearbeitet hätte, mit Leidenschaft um innere Zucht bemüht, selbst wenn er dafür auf den äußeren Erfolg verzichten müßte. Er hat aber arge Feinde, die durchaus seinen Ruf zerstören wollen. Aus ganz unlitterarischen Gründen: weil er Jude ist, weil seine Art einer Prinzessin mißfallen haben soll, und weil sich die Offiziere über seine Novelle »Leutnant Gustl« geärgert haben. Nun, das könnte ja auch anderswo vorkommen. Aber österreichisch ist es, einem Menschen, der einem nicht paßt, einfach das Talent abzustreiten. Nicht etwa zu sagen: Die Gesinnungen dieses Dichters sind falsch, ich halte sie für gefährlich, ich will ihnen widersprechen, sondern zu dekretieren: er ist kein Dichter. Man fragt eben bei uns niemals nach der Sache, sondern immer nur nach der Person, und seit seine Person »oben« nicht mehr beliebt ist, sollen auf einmal auch seine Werke nichts mehr gelten. Da hätten wir nun gewünscht, daß mit Autorität ausgesprochen worden wäre: Dies alles geht uns nichts an, der Mann mag falsche Ansichten haben, aber er kann mehr, als die anderen können; wir haben nicht über seine Gesinnung, sondern über seine Leistung zu richten; mag jene schlecht sein, diese ist gut; vielleicht wird ihn einst der Teufel holen, aber merkt euch, Leute, es ist ein Dichter, den er holt! Dies hätten wir gewünscht, und wir haben es eigentlich erwartet. Dann hätten wir doch die Beruhigung gehabt, daß es noch eine Stelle giebt, der die Sache gilt, während ja so wirklich diejenigen Recht behalten, welche behaupten, es komme bei uns gar nicht darauf an, etwas zu leisten, sondern nur darauf, sich beliebt zu machen und nicht anzustoßen.
Man erzählt, daß von den Preisrichtern über den »Fall Schnitzler« lange beraten worden sei. Der Wert seiner »Lebendigen Stunden« sei zugestanden worden. Nur habe man sich gegen ihn auf die »Affaire Gustl« berufen. Die Novelle »Leutnant Gustl« hat nämlich viele Offiziere empört. Das hätte natürlich nichts gemacht, wenn Schnitzler nicht Militärarzt gewesen wäre. Dies wurde benützt, um ihn vor die militärische Behörde zu ziehen; er hat es abgelehnt, sich hier zu verantworten, so wurde ihm die Charge aberkannt. Das Argument der Preisrichter war nun: man kann einem, dem die Charge aberkannt worden ist, nicht einen Preis zuerkennen. Deshalb entschieden sie für den »Rosenmontag«, der – das ist der Spaß – dieselben Offiziere ganz ebenso empört hatte. Schnitzler bekam den Preis nicht, weil er sich in einer Novelle gegen den militärischen Geist vergangen hat. Deswegen bekam ihn Hartleben für ein Stück, das sich ganz ebenso gegen den militärischen Geist vergeht. Der Unterschied war nur: dort hatte es einen öffentlichen Skandal gegeben, hier nicht; und bei uns ist von jeher alles erlaubt, nur zum Skandal darf es nicht kommen. Hartleben hat sich also eigentlich den Grillparzerpreis nur dadurch verdient, daß er nicht der österreichischen Armee angehört.