Berliner Tageblatt: Hermann Bahr über Arthur Schnitzler, 14. 12. 1903

Hermann Bahr über Arthur Schnitzler.

Vor wenigen Wochen wurde der akademisch-dramatische Verein in München aufgelöst, weil er einige Dialoge aus Arthur Schnitzlers Dialogbuch »Reigen« auf die Bühne gebracht hatte. Wir haben unsere Auffassung, daß die Aufführung dieser Szenen auch in künstlerischer Hinsicht eine Geschmacklosigkeit bedeutete, niemals verhehlt, tragen aber auch kein Bedenken, die Auflösung der immerhin verdienten literarischen Vereinigung für nutzlose Härte zu erklären.
Inzwischen sind uns aus unserem Leserkreise so viele Anfragen über das Buch Schnitzlers zugegangen, daß es geboten erscheint, einmal ein paar Worte über das merkwürdige Werk zu sagen, damit die irrigen Ansichten, die darüber in Umlauf sind, richtig gestellt werden. Wir geben zu diesem Zwecke einige Sätze aus einer Schrift wieder, die Hermann Bahr der Statthalterei in Wien zugehen ließ, um die ihm bisher noch verweigerte Erlaubnis zu einer Vorlesung der Schnitzlerschen Dialoge zu erhalten. Der Autor des »Meister« schreibt:
»Es hat unserer Publizistik an dem Mute gefehlt, öffentlich für das Werk Schnitzlers einzutreten. Gewiß, viele unserer Schriftsteller und Kritiker erkennen den literarischen Wert der Dichtung Schnitzlers voll an, aber in keinem Blatte ist ein Artikel für das Buch erschienen. So wurde das Werk eines Dichters totgeschwiegen, ja schlimmer als das, dem Unverstande und der Gehässigkeit preisgegeben. Durch die Vorlesung will ich den Folgen dieser Unterlassung entgegentreten und will in den Hörern die Erkenntnis erwecken oder die Ueberzeugung bekräftigen, daß es sich hier um ein literarisches Werk handelt, daß die Form des Ganzen und die Idee, die ihm zu Grunde liegt, es zu einem Kunstwerke machen, daß die heiklen Situationen, die in ihm vorkommen, nicht in den Dienst frivoler Spielerei, sondern ernster Gedanken gestellt und nicht um ihrer selbst willen, sondern aus künstlerischen Gründen mit künstlerischer Notwendigkeit behandelt sind.
SchnitzlersReigen‹ zeigt in satirischer Form die Konsequenz davon, daß unserer Anlage nach und noch mehr unserer Gesellschaftsordnung nach das sexuelle Moment in den Mittelpunkt des ganzen Lebens gestellt ist. Schnitzler führt uns in Beispielen, die mit Absicht aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten gewählt sind, vor, wie anders der ›Werbende‹, wie anders der ›Erhörte‹ sich benimmt. Um diese Kontraste wirksam und überzeugend zu gestalten, hat sie der Dichter so nahe wie möglich zusammengerückt. Wenn man also nach einer Tendenzen im vulgären Sinne in der Dichtung suchen wollte, müßte man diese geradezu als sittlich bezeichnen, und wenn die Dichtung etwa einen bestimmenden Einfluß auf den Leser oder Hörer üben sollte, so könnte dieser Einfluß nie darin bestehen, daß sie das Mädchen zur Hingebung verleitet, sondern nur darin, daß sie ihm die Notwendigkeit der Zurückhaltung nahe legt, nicht darin, daß sie den Manne aneifert, den vorgeführten Beispielen zu folgen, sondern nur darin, daß sie ihn bestimmt, zu unterlassen, was ihm als abstoßend oder lächerlich vorgeführt wurde.«