Hermann Bahr beim Ministerpräsidenten, 5. 11. 1903

Hermann Bahr beim Ministerpräsidenten.

Zum Verbote der Vorlesung von Arthur Schnitzler’s »Reigen«.

Wie bekannt, erhielt Hermann Bahr vor mehreren Tagen die polizeiliche Verständigung, daß ihm die beabsichtigte Vorlesung von Arthur Schnitzler’s »Reigen« im Bösendorfer-Saale nicht gestattet werden könne. Gegen diese Entscheidung ergriff Bahr den Recurs an die Statthalterei.
Gestern sprach Bahr in dieser Angelegenheit beim Ministerpräsidenten Dr. v. Koerber vor.
Bahr wies zunächst darauf hin, daß in München eine Aufführung des »Reigen« erfolgt sei. Eine dramatische Aufführung wirke doch viel stärker, drastischer und handgreiflicher, als eine bloße Vorlesung und es komme ihm daher der Widerspruch zwischen den Entscheidungen der Münchener Behörde, welche das Werk passiren ließ, und der Wiener Behörde, welche mit einem Verbote vorgehe, recht seltsam vor.
Dr. v. Koerber erwiderte, es möge immerhin dem Laien befremdlich erscheinen, wenn dramatische Werke an verschiedenen Orten seitens der Behörden eine verschiedene Beurtheilung finden, aber in der Praxis sei dies nun einmal unvermeidlich. Wenn manche Werke in Oesterreich verboten sind, die in Deutschland erlaubt sind, so sind umgekehrt manche Werke in Deutschland verboten, die in Oesterreich erlaubt sind.
Hermann Bahr bemerkte sodann, daß der »Reigen« in zehntausend Exemplaren in Oesterreich verbreitet und daß es höchst unwahrscheinlich sei, daß zu der Vorlesung im Bösendorfer-Saale auch nur eine Person gekommen wäre, welche nicht aus der Lectüre des Werkes ganz genau gewußt hätte, was sie zu erwarten habe.
Der Ministerpräsident erwiderte, es sei zweifellos, daß ein Werk in der Lecture einen geringeren Eindruck mache, als im öffentlichen Vortrage.
Schließlich gab Hermann Bahr seiner Verwunderung Ausdruck, daß Werke erotischen Inhalts, wenn sie absolut unliterarisch sind, von der Behörde mit der größten Nachsicht und Milde behandelt werden, und daß sich diese Milde und Nachsicht, wenn es sich um ein Werk von ausgesprochen literarischem Charakter handle, sofort in Strenge verwandle.
Dr. v. Koerber betonte in seiner Erwiderung, es scheine ihm, daß die literarische Production in erotischen Dingen jetzt weiter gehe als es aus öffentlichen Gründen zulässig sei. Im Uebrigen nahm der Ministerpräsident zur Kenntniß, daß Bahr den Recurs an die Statthalterei geleitet habe. Die endgültige Entscheidung behalte er sich vor, doch könne er nur geringe Hoffnungen machen, daß der »Reigen« freigegeben werde.