Hermann Bahr: [Feuilletonentwurf zu Episode], [Anfang Februar 1901?]

Drei Acte von jungen Autoren, die rasch bekannt geworden sind und jeder, in seinem Lande, auf seine Weise, einen ganz bestimmten Punkt der Entwicklung darstellen. Man muss sich ja hüten, Vergleiche gewaltsam zu ziehen, wo vielleicht nur der Zufall gewaltet hat. Aber hier trifft es sich doch hübsch, dass man, ohne sich irgendwie zu zwingen, unwillkürlich, indem man die Stücke nebeneinander betrachtet, ein deutliches Gefühl bekommt, wie in den drei Ländern die jungen Autoren, die ungestüm mit dem Bruche der Vergangenheit begangen, doch eigentlich ihre Stärke darin hatten, dass sie sich von Anfang an durchaus, freilich ohne es selbst zu wissen, in der Tradition der heimischen Litteratur bewegten.
Zuerst »Episode« von Schnitzler. Das ist eine jener graciösen, ein bischen frechen, dann wieder melancholischen, Sentimentales und Cynisches seltsam vermischenden Scene, die, unter dem Titel Anatol gesammelt, (1893) zuerst dem jungen Autor die Aufmerksamkeit der Kenner zuzogen. Der Band enthält lebhaftere, dramatischere Scenen, wie das Abschiedssouper, oder die Frage an das Schicksal, die dann auch schon früher gespielt worden sind. Aber es gibt vielleicht kleine, die zugleich für die ganze Art dieser Dialoge charakteristischer wäre und in der so viele Zeichen und Knoten sind, die auf seine spätere Entwicklung deuten, gleichsam einzelne Hacken, auf die man sozusagen seine späteren Wendungen und Entfaltungen aufhängen könnte. Es geschieht hier eigentlich gar nichts. Der eine der zwei jungen Leute, Max, erwartet den angekündigten Besuch einer Dame, mit der er vor Jahren einmal verkehrt hat. Der andere, sein Freund Anatol, kommt zu ihm mit der Bitte, da er verreisen will, ihm ein Packet von Briefen aufzuheben. Er hat wieder einmal gebrochen und ist in jener merkwürdigen Stimmung, wo man sehnsüchtig in die Zukunft schaut, die uns vielleicht doch noch das Glück bringt und von der Vergangenheit nichts wissen will. »Ich suche ein Asyl für meine Vergangenheit,« sagt er; der Freund soll ihm die Papiere aufheben. Max fragt, warum er sie nicht lieber einfach verbrenne. Aber das kann er nicht, er hängt an diesen Erinnerungen: »Das ist so meine Art von Treue. Keine von Allen, die ich liebte, kann ich vergessen. Wenn ich so in diesen Blättern, Blumen, Locken wühle – Du mußt mir gestatten, manchmal zu Dir zu kommen, nur um zu wühlen – dann bin ich wieder bei ihnen, dann leben sie wieder, und ich bete sie auf’s Neue an.« Das ist ihm so wichtig, dass er die Päckchen fast pedantisch zu ordnen pflegt, jedes zierlich durch ein Band zusammengehalten und jedes mit irgend einer Aufschrift: einem Vers, einem Wort, einer Bemerkung, die genügen, das ganze Erlebnis in seiner Erinnerung zu erwecken, einmal ist eine philosophische Sentenz, wie »Es ist leichter, die Richtung einer Flamme zu verändern als sie zu entzünden«, was bedeutet, dass er eben in diesem Falle die Richtung einer Flamme verändert hat, die ein anderer entzündet hat; ein anderesmal ist es eine Photographie von ihr, an der Seite ihres Bräutigams, mit dem zierlichen Vers:
  • »Um mir die böse Laune wegzufächeln,
  • Denk’ ich an Deinen Bräutigam, mein Kind.
  • Ja dann, mein süßer Schatz, dann muss ich lächeln,
  • Weil’s Dinge giebt, die gar zu lustig sind.«
Noch ein anderesmal genügt ein einziges Wort: »Ohrfeige.« Und indem die Beiden plaudern, so ein Päckchen um das andere durch die Finger gleiten lassen, fällt ihnen ein ganz dünnes auf: da ist nichts darin als Staub, der Staub von einer Blume und dazu hat er »Episode« geschrieben. »Es war nur eine Episode, ein Roman von zwei Stunden . . . nichts! . . . Ja, Staub! – Dass von so viel Süßigkeit nichts Anderes zurückbleibt, ist eigentlich traurig.«
Damals hat ihn das eigentlich sehr stolz gemacht. Er ist sich ordentlich groß vorgekommen, fast wie »einer von den Gewaltigen des Geistes«, wenn er so »unter seinen ehernen Schritten diese Mädchen und Frauen zermalmte«, und hat sich dabei fast wie das Schicksal selber gefühlt: »Weltgesetz«, dachte ich – »ich muss über Euch hinweg!« Nun, mit den Jahren wird man ruhiger, man wird bescheidener, man fühlt sich kleiner. Man weiß auch, dass das »Zermalmen« nicht so gefährlich ist. Sie richten sich schon wieder auf, sie trösten sich, diese Mädchen und Frauen. Freilich, es giebt auch Ausnahmen – wie gerade die in jener »Episode. Eigentlich eine ganz gewöhnliche Geschichte: Er am Klavier, die grünrothe Ampel brennt, sie zu seinen Füßen, den Kopf in seinem Schoß, und ihre verwirrten Haare funkelnd grün und roth, während seine linke Hand leise über die Tasten huscht – »meine Rechte hat sie an ihre Lippen gedrückt . . . Ich kenne sie erst seit zwei Stunden, ich weiß auch, dass ich sie nach dem heutigen Abend wahrscheinlich niemals wieder sehen werde – das hat sie mir gesagt – und dabei fühle ich, dass ich in diesem Augenblick wahnsinnig geliebt werde. Das hüllt mich so ganz ein – die ganze Luft war trunken und duftete von dieser Liebe . . . . . Und ich hatte wieder diesen thörichten göttlichen Gedanken: Du armes, – armes Kind! Das Episodenhafte der Geschichte kam mir so deutlich zu Bewußtsein. Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der Erinnerung. Es war eigentlich schon vorüber. Sie war wieder Eine von Denen gewesen, über die ich hinwegmußte. Das Wort selbst fiel mir ein, das dürre Wort: Episode. Und dabei war ich selber irgend etwas Ewiges . . . Ich wußte auch, dass das »arme Kind« nimmer diese Stunde aus ihren Sinn schaffen könnte – gerade bei der wußt’ ich’s. Oft fühlt man es ja: Morgen früh bin ich vergessen. Aber da war es etwas Anderes. Für Diese, die da zu meinen Füßen lag, bedeutete ich eine Welt; ich fühlte es, mit welch’ einer heiligen, unvergänglichen Liebe sie mich in diesem Momente umgab. Das empfindet man nämlich; ich lasse es mir nicht nehmen. Gewiss konnte sie in diesem Augenblicke nicht Anderes denken, als mich – nur mich. Sie aber war für mich jetzt schon das Gewesene, Flüchtige, die Episode.« Der Freund fragt nun, was sie denn eigentlich war, die er in seinem Ampellicht wie eine Märchengestalt schildert, und es stellt sich heraus, dass es eben jene Bianca, eine Dame vom Circus gewesen ist, die Max nun gerade erwartet. Max wird nun skeptisch; er glaubt nicht an die »heilige, unvergängliche Liebe,« der kleinen Person – für ihn ist sie nicht die Märchengestalt; für ihn ist sie eine von den tausend Gefallenen, denen die Phantasie des Träumers neue Jungfräulichkeit borgt. Für ihn ist sie nichts Besseres, als »hundert Andere, die durch Reifen springen oder kurzgeschürzt in der letzten Quadrille stehen.« Er nimmt die Menschen ruhig hin, wie sie sind, während sie Anatol immer nur durch das bunte Glas seiner Stimmung sieht. Wer hat nun Recht? Anatol pocht auf sein Gefühl, das ihn nicht betrügen kann: er hat es damals gefühlt, dass sie ihn wahrhaft geliebt hat. Und nun kommt sie. Anatol tritt zur Seite, die Beiden begrüßen sich und wir sind nun sehr neugierig was sie sagen wird, wenn der einzig Geliebte plötzlich vor ihr steht. Er tritt vor und verbeugt sich, Bianca nimmt das Lorgnon, Max erklärt: Ein alter Bekannter! Mit der sicheren Anmuth, in welcher Frauen ihre Vergeßlichkeiten zu verstecken wissen, streckt sie ihn, indem sie in ihren Erinnerungen sucht, freundlich die Hand hin: »Ah, wahrhaftig, wir kennen uns ja . . . Natürlich, wir kennen uns sehr gut!« Anatol ruft erregt, indem er ihre Hände fasst: »BiancaUnd sie beeilt sich, immer mit derselben leeren Liebenswürdigkeit: »Wo war es nur, dass wir uns trafen? Nicht wahr . . . es war in St. Petersburg?« Da lässt Anatol ihre Hand los: »Es war . . . nicht in Petersburg, mein Fräulein.« Und er geht. »Was hat er denn? fragt die Dame, hab ich ihn beleidigt?« Und sie erfährt jetzt erst Alles von Max: »Anatol, Kla – Klavier – Ampel . . . so eine rothgrüne – hier in der Stadt – vor drei Jahren.« Ah, jetzt erinnert sie sich. Aber er ist schon fort. »Wie schade . . . Sie müssen mich bei ihm entschuldigen. Ich habe ihn verletzt, den guten, lieben Menschen.« Sie erinnert sich jetzt seiner ganz genau – »Gewiss. Aber . . . er sieht irgend Jemanden in Petersburg zum Verwechseln ähnlich . . . Und dann: wenn man drei Jahre lang an Jemanden nicht denkt, und er steht plötzlich da – man kann sich doch nicht an Alles erinnern.« Max lacht und zieht sie zu sich auf den Fauteuil neben dem Kamin, um mit ihr zu plaudern, von ihren Reisen, von allerhand Abenteuer, von dem »Ähnlichen« in Petersburg.
Der Act ist ein kleines Juwel an leichter Anmuth, Laune und gleichsam unabsichtlichem Geiste. Das perlt so herab als ob es alles selbstverständlich wäre und man ist eigentlich verwundert, wenn man es jetzt, sieben Jahre später, kritisch prüft, zu sehen, wie viel schwere Litteratur eigentlich darin steckt. Dem Inhalte nach, der Form nach und auch wenn man es auf die späteren Werke des Autors bezieht. Man muß sich nur erinnern, dass das damals die Zeit der großen Anklagen gegen das Weib war. Wir waren damals alle ein bischen von Strengberg angesteckt, wir wütheten alle gegen die lügenhaft-vergessliche, leichtsinnige Frau, der es selbst mit der Liebe nicht ernst ist. Wie hübsch weiß das aber Schnitzler zu wenden, indem er zeigt, dass wir selbst, wir Männer, eben das, was wir den Frauen so vorwerfen, das Verwechseln von Stimmung mit Leidenschaft, ganz genau ebenso practizieren und uns noch zum Ruhme rechnen! Und wie schön sind da überall Motive angeschlagen, die der Dichter in seinen späteren Werken erst ausspinnt! »Und das macht mir das Leben so vielfältig und wandlungsreich, dass mir eine Farbe die ganze Welt verändert!«, sagt der Anatol hier. Klingen da nicht schon die Verse aus dem Paracelsus an:
  • »Was ist nicht Spiel, das wir auf Erden treiben
  • Und schien es noch so groß und tief zu sein!
  • Mit wilden Söldnerschaaren spielt der eine,
  • Ein andrer spielt mit tollen Abergläubischen:
  • Vielleicht mit Sonnen, Sternen irgendwer –
  • Mit Menschenseelen spiele ich. Ein Sinn
  • Wird nur von dem gefunden, der ihn sucht
  • Es fließen ineinander Traum und Wachen,
  • Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.
  • Wir wissen nichts von andern, nichts von uns.
  • Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.«
Und ist das nicht eigentlich das Grundthema der ganzen Schnitzler’schen Dichtung? Ist es nicht der Inhalt der Liebelei, dass ein Mensch ernst nimmt, was nur ein Spiel gewesen ist und so aus einer Episode ein Drama wird? Nicht der Inhalt des Kakadu, dass umgekehrt, aus einem vermeintlichen Spaße plötzlich blutiger Ernst geworden ist? Nicht das Verhängnis der Beatrice, dass auch sie in jeder Stimmung die Welt wie durch ein neues Glas sieht.