Stefan Zweig an Arthur Schnitzler, 23. 5. 1913

VIII. Kochgasse
Wien, 23. V. 13

Verehrter Herr Doktor, ich habe soeben Ihre neue Novelle empfangen und keine eigene Arbeit ist mir so wichtig, um nicht sofort für so liebe Lectüre unterbrochen zu werden. In einem Zug von Anfang bis zu Ende, hatte ich doch nachher das Gefühl einer grossen Fülle, das einen immer überkommt, wenn man Existenzen nicht an einem zufälligen Punkte ihres Schicksals anstreift sondern durchlebt bis zu jenem innersten Kern, in dem die ganze Summe ihres Lebens in stärkstem Extract eingepresst ist. Nichts ist darin eigentlich episodisch, sondern Alles so zum Notwendigen herangedrängt, dass – wie in jedem vollendeten epischen Werk – es gar keine Hauptfigur mehr gibt, sondern jeder von seiner Seite das Geschehen beherrscht und ihr Gegeneinanderspiel zu einem harmonischen Kampf der Kräfte wird. Reute es mich im ersten und mittleren Teile, das Geschehnis nicht dramatisch gestaltet zu sehen – ich habe das Empfinden, als hätte sich der Stoff ihnen zuerst dramatisch dargestellt, so stark ist das plastische Entgegentreten der Figuren – der Schluss überzeugte mich durch seine Harmonie, dass hier die Form zu wählen war, die Novelle das einzig mögliche, weil nur sie die erhabene Beschwichtigung so erregter Gefühle duldet. Ich muss für Sie befürchten, dass Sie auf manche Gegnerschaft gerade diesmal stossen werden, weil Sie in so grosser Wahrhaftigkeit dem primitiv Sexuellen entgegengetreten sind, indess die meisten Menschen aus einer merkwürdigen innern Verlogenheit jede ihrer rein sexuellen Empfindungen mit dem Begriff Liebe verbrämen und selbst im Kunstwerk das reine nakte Blutgefühl nicht dulden wollen: sie verwandeln dann gern ein falsches Schamgefühl in moralische oder ästhetische Abneigung, indess ich gerade jene Intensität des Körperlichen in Verbindung mit der atmosphärischen Elektricität dieser (wundervoll hingemalten) Sommertage als stärkste Wahrheit dieses Werkes empfinde. Der Schluss hat freilich auch mich im ersten Lesen befremdet, doch bin ich meiner hier weniger sicher als Ihrer und zweifle nicht, dass eine zweite und nun weniger von der Spannung nach vorwärts gejagte Lectüre mir die Notwendigkeit fühlbarer machen wird. Das Motiv der Entladung aufgestauter erotischer Kräfte, das die Garlan und Das weite Land schon so prachtvoll ausbildeten, ist hier zu wundervoller Vehemenz geworden und ich freue mich, dass wir an Ihnen gerade in jenen Jahren, wo die Dichter sonst gemessen und vorsichtig werden, ebenso wie im Bernhardi eine männliche geradeausblickende Kühnheit so sehr bewundern dürfen. Für mich werden Ihre Werke immer selbstbewusster immer näher der Wahrheit, immer weiter vom Illusionären, das doch irgendwie immer mit Jugend und Träumerei zusammenhängt. Haben Sie innigen Dank auch für dieses Werk wie für all die andern, (mit denen ich öfter dank der schönen Gesammtausgabe jetzt Zwiesprache tausche, als Sie es vermuten möchten).
Vielleicht komme ich noch irgendwo zurecht, mich über das Werk öffentlich auseinanderzusetzen: es reizen mich so viele ineinandergefaltete Probleme hier einzeln vor den Blick zu stellen. Leider sind Ihre Bücher bei den Blättern fast immer schon am Tage des Erscheinens vergeben und man käme post festum.
Nun noch Eines: ich spreche Montag um ½ 8 Uhr im kleinen Festsaal der Universität zur Bahr-Feier und sage es offen, dass ich Sie sehr gerne unter den Anwesenden sähe. Nicht um meinetwillen (der vielfach Widerspruch wecken dürfte, denn Bahr ist eine so provocant agressive Persönlichkeit, dass er sogar noch als Thema erbittert) sondern um Bahr’s willen, von dem vielfach vermeint wird, er sei von seiner ganzen Generation heute irgendwie verlassen oder ihr entfremdet. Es ist ja zum Teil leider wahr, nicht aber, wie ich doch weiss, bei Ihnen: deshalb hätte ich, ohne zudringlich sein zu wollen, für ihn gerne Ihre Gegenwart erbeten.
Empfangen Sie verehrter Herr Doktor nochmals den Dank alter und immer wieder erneuter Liebe und Verehrung von Ihrem getreu ergebenen
Stefan Zweig