Josef Redlich an Hermann Bahr, 29. 2. 1904

29/2 904.

Verehrtester Freund,

Nur mit wenigen Zeilen kann ich Ihnen heute für Ihren letzten so lieben und erfreulichen Brief danken; ich bin glücklich zu hören, dass der alte Zauberer Okeanos auch an Ihren Nerven Wunder thut und dass Sie sich die heilige Salzflut geniessend, wohler kräftiger und lebensfreudiger fühlen. Mir ist das Meer immer der einzige treue und verlässliche Wohlthäter: und wenn ich so könnte, führe ich am liebsten nach Abbazia und mit Ihnen an den Küsten Dalmatiens und Liburniens nach Corfu! Es ist eine der grossartigsten Küsten, die es in der Welt gibt, wie mir weitgereiste seefahrende Engländer gesagt haben: und obgleich die Felsen dort steil sind und wenig Lebendiges zu sehen, macht die Landschaft keinen bedrückenden, viel mehr einen befreienden grossartigen Eindruck! Immer muss ich in diesen Gewässern daran denken, dass es doch wol nicht viel anders als heute ausgesehen hat, zu jener Zeit, da die römischen Flotten durch das Liburnische Meer zogen zur grossen Seeschlacht bei Actium, in der die Herrschaft über die alte Welt entschieden worden ist! Der Quarnero ist ein althistorisches Meeresbecken: und wenn man die alten verklungenen Geschichten Venedigs und seiner Seeherrschaft einmal ein bischen gelesen hat, so belebte sich die ganze Gegend für den erinnernden Besucher.
– Hier, in dem kotherfüllten Wien ist nichts Neues: höchstens dies, dass »Rose Bernd« ab vom Repertoire nach 6 Aufführungen auf höheren Befehl abgesetzt wurde, wie man erzählt, wegen der wenig erbaulichen after-dinner oder besser gesagt after-love-Szene im ersten Akt, die, wie Herr Rudolf Lothar sagen würde, sich »im Schatten eines auf der Bühne wirklich gezeigten Cruzifixes« abgespielt hat. – Die »Geschichte vom Gitterbett« hat auf meine Frau einen recht wenig erquicklichen Eindruck gemacht: der treffliche Autor hatte sich allen »etwaigen« Vorwürfen durch Reise nach Berlin zu entziehen gewusst. Er, der gute Trebitsch, erschien bei uns sichtlich ergriffen vom Tode eines 76jährigen und gewiss mit 17.6 Millionen Kronen gesegneten Onkels, dessen Leichenbegängnis den gefühlvollen Neffen von Berlin hierher genötigt hatte. Trebitsch ist wirklich ein guter Kerl, aber manchmal ein bischen zu »gut« für diese Welt. – Ich habe – trotz Überlastung mit Arbeit – einen ruhigen Abend gefunden, um Schnitzlers »Einsamen Weg« zu lesen. Ich bewundere viele Feinheiten des Dialogs, erschütternd wahre Worte und in’s Herz gehende Gedanken, aber das Ganze will mir nicht gefallen. Der »Einsame Weg« ist nicht der neue Weg, den ich Schnitzler zu wandeln beabsichtigt, wie man hört: die Herren Sala und Fichtner sind die gealterten Anatol und dessen Freund aus unseren eigenen Jugendtagen. Aber sind denn diese Anatols wirklich so wichtige Leute – selbst in Wien –, dass man sie nicht los werden sollte? Und dann: muss man glauben, dass Frau Wegrath 23 Jahre lang ruhig diese »Lüge« mit sich herumträgt, um sie schliesslich dem – Hausarzt zu erzählen und dem Sohne Andeutungen zu machen, eh’ sie stirbt? Und dann diese unglückselige Johanna! Das ist das durch Lectüre von Ibsen »verbildete« Mädchen; aber das Schlimme ist, dass man ihr ihre Ahnungen und »Sehnsüchte« nicht glaubt, vielmehr das Gefühl hat: die hat sie auch »angelesen«! Und so kein Fünkchen Sonnenschein ist in dieser Schnitzlerschen Welt: nervöse Schufte sind die Helden, die so thun, als gehörte die Welt ihnen, weil sie jedes Quartal ein anderes »Medchen« verführen! Ganz ernsthaft sagt der eine der beiden »Schufte« in dem Stück zu dem ex-post entdeckten Sohn: »Ich habe doch Deiner Mutter die schönste Stunde ihres Lebens geschenkt, die eine Frau haben kann und da empfing sie Dich«. Da muss man doch lächelnd sich fragen: glaubt Schnitzler das wirklich, dass »das« die schönste Stunde im Leben einer Frau ist? Liegt da nicht etwas naive, virile Selbstüberschätzung darin?
Verehrter Freund, jetzt ist’s doch ein längerer Brief geworden. Aber ich höre sogleich auf. Will Ihnen nur sagen, dass ich mit der Wanderung zu dem »lieben guten« Moriz B. in I. Fichtegasse absichtlich zögere: ich glaube aus bestimmten Gründen, dass es besser ist, noch kein damit noch zu warten. Es ist nichts damit versäumt: und ich fürchte fast, vorschnell gehandelt wäre hier eventuell mit Schäden verbunden. Aber im Laufe dieses Monates lässt es sich vielleicht doch machen. –
Die »Zeit« ist trotz des japanischen Kriegs fader denn je: Singer ist von einer Reise in das »bessere Westeuropa« jüngst zurückgekehrt. Es wird aber noch kein neues »hervorragendes« Engagement aus Paris oder London gemeldet.
Meine Frau ist leider nicht ganz wohl: sie hat seit Wochen an Heiserkeit laborirt und nun stellt sich heraus dass sie an der »kaiserlichen« Krankheit« leidet: eine allerdings sehr kleine Verdickung des Stimmbandes ist schuld daran. Einstweilen wird sie gepinselt, aber es dürfte doch zu der kleinen Operation kommen, und dann muss sie – acht Tage lang schweigen, was wol die schwierigste Consequenz des Leidens ist.
Ich bitte Sie mich der Gnädigen zu empfehlen: meine Frau grüßt tausendmal
Ich selbst drücke Ihre Hand und bin
in treuer Verehrung der Ihrige
Josef Redlich