Hermann Bahr: Wiener Brief, [25.–30.] 12. 1893

WIENER BRIEF.

Ich soll Ihnen monatlich notieren, was hier etwa künstlerisch gelten, Wert verlangen, Wirkung hoffen darf? Man kann es ja versuchen. Es ist keine Mühe. Wenn es, wie diesen Dezember, zwei litterarische Premieren giebt, staunen schon alle. Wir sind gar nicht verwöhnt.
Wir haben sehr viel Theater. Aber wir haben sehr wenig Litteratur. Schauspielerei herrscht. Zwei, dreimal die Woche muss man in der »Burg« sein; wer sich ein bischen achtet, darf nicht fehlen. Heute spielt Fräulein Kramm den Raphael, den sonst Frau Hohenfels spielte, in den »guten Freunden«; morgen mimt Herr Alsen für Herrn Thimig, im »Letzten Brief«; oder die Marquise von Meneville, die in den »Feeenhänden« sonst Frau Gabillon gab, soll an Frau Mitterwurzer jetzt kommen. Das sind hier Ereignisse. Das sind unsere Feste. Der Schauspieler gilt, nicht der Dichter. Wir wollen Rollen, keine Stücke, Vergessenes wird geholt, im Ton, Gang und Haltung aus der Mode, wenn es nur scenische Treffer hat. Unlitterarisches geschieht, ja ohne theatralische Kraft, um nur das Vermögen der Schauspieler zu üben. Man eifert Leeres zu füllen, Niedriges zu heben. Gemeines zu verklären, als ob die Wunder der Bühne erst an verächtlichen Werken gerade desto deutlicher würden. Fremde können es gar nicht verstehen. Berliner gehen ins Theater, um ein Stück zu sehen. Wir gehen oft, um einen Vers zu hören. Wir sind da wie die Pariser, die auch diese Pflege der Schauspielerei haben.
So leben wir unlitterarisch. Die heimlichsten und feinsten Noten mimischer Kunst sind geläufig. Aber wir hören keinen Dichter. Jetzt hörten wir gleich zwei. Und wir bewiesen wieder, dass wir es nicht verdienen.
Es war das »Märchen« von Arthur Schnitzler, das den ersten Dezember im Deutschen Volkstheater und das »Hannele« von Gerhart Hauptmann, das den sechsten Dezember in der Burg gespielt wurde. Man kann es den Direktoren nicht verargen, wenn sie die Litteratur nach solchen Erfahrungen lieber lassen. Die Wiener wissen künstlerische Triebe und Versuche unbefangen nicht zu messen. Sie freuen sich ausser der Kunst, in der Schablone. Sie hassen die Zucht und die Strenge jeder Dichtung und es graut ihnen vor der Schönheit. Das wurde wieder bewiesen.
Ich schwärme nicht für Hauptmann. Ich glaube, dass er in Preussen jetzt über Gebühr gilt. Ich finde, dass seine Note dürftig ist. Sie giebt nur die Verkümmerung, die Furcht, die Not der kleinen Bürger, das müde Elend knapper Existenzen, die scheue Angst am Rande der Gesellschaft, zwischen dem dritten und dem vierten Stande, wo man nicht leben und nicht sterben kann. Das ist preussisch, aber sonst leiten andere Klassen heute den Geist. Es ist nicht von morgen. Er hat Verdienste um sein Volk, weil er auf die Bühne, die dort in der Gewalt von Spekulanten war, wieder Ernst und Würde brachte. Aber dem grossen Werke der Zeit, eine neue Nation der Europäer zu stiften, hilft er nicht. Er bleibt im Kreise seiner Geburt, in den Wünschen, Leiden, Hoffnungen von Preussen. Gesichte in die Weite fehlen. Das war immer meine Meinung. Ich mag mich täuschen, es mag etwa doch noch ein geheimer Faden sein, der ihn an Europa hängt. Und es hindert mich nicht, seine Künstlerschaft zu rühmen, weil er etwas zu sagen hat und es zu sagen weiss. Er dient nicht den Launen und Lüsten der Menge. Er fragt nicht nach Gewohnheiten und Bräuchen. Er folgt keinem Muster. Er horcht nach seiner Seele und will ihre Rührung gestalten. Er hat aus Fleiss und Eifer alle Mittel.
Ich schwärme auch für das »Hannele« nicht. Es hat schöne Stellen und ich liebe seinen Trieb, das Wirkliche mit Träumungen zu verwinden und über die Not zur Schönheit zu dringen, die heimlich im Gemüte ist. Aber es bleibt leerer Wunsch ohne Hilfe. Die Kraft versagt. Er kommt zur Begierde von Poesie. Aber er kann sie uns sich nicht gewähren. Er will von der Erde der Gefangenschaft im Elend fort. Aber er vermag keinen Himmel aus tröstlichen Gefühlen. Die Worte reichen nicht an Glanz und Fülle und die edle Geberde der Erlösung fehlt, die die bangen Sinne wünschen. So ruft er schliesslich den Maschinisten an, die Poesie zu geben, die er nur verlangen, selber nicht schaffen kann.
Ich schätze Arthur Schnitzler sehr. Ich stelle Hoffnungen auf ihn. Er gehört in das halbe Dutzend, das die deutsche Bühne fördern, aus der Irre führen, zur Kunst bringen kann. Er ist ein Künstler. Er hat seinen eigenen Ton, der wienerisch ist, aber an die neue Race über den Nationen streift. So grüsse ich Ihn herzlich.
Aber ich habe nicht verhehlt, dass das »Märchen« nicht gefallen kann. Ich dachte das gleich. Man merkte es an jeder Scene. Es ist Litteratur, aber es ist kein Theater, oder doch nicht Theater von heute. Die üblichen Forderungen, die der übliche Hörer bringt, den üblichen Geschmack, die üblichen Sitten kränkt, verblüfft, empört es gewaltsam. Als ein Experiment, Psychologie zu verbühnen, das manchen Versuchen später helfen, viele Mühe kürzen, Irrungen sparen mag, wird es zählen. Aber es ist kein »Stück«.
Ich habe gleich gedacht: Diese Werke werden fallen und der Hörer hat Recht. Kunst und Bühne sind getrennt. Theater muss theatralisch sein. Der Dramatiker gleicht dem Redner. Es genügt nicht, dass der Redner eine gute Sache führt. Er muss sie gut zu führen wissen. Er muss wirken. Ein Verteidiger des Guten kann ein schlechter Redner, ein Verteidiger des Schlechten kann ein guter Redner sein. Es gilt nicht, was er sagt; es gilt, dass man ihm glaubt. Die besten Pläne, Argumente, Wünsche helfen nicht, wenn sie in den Hörer hallen. Der Philosoph will nur seine Meinung aus sich bringen. Der Redner muss sie in die Anderen bringen. Der Künstler will seine Schönheit gestalten. Die Bühne muss sie in den Anderen wecken. Wer das nicht kann, mag viele Ehren verdienen, aber er ist nicht theatralisch; er gehört aus dem Theater. Die Leute haben Recht, es hart unhöflich, grausam zu sagen. Sie fordern Wirkung von der Bühne. Was nicht wirkt, zischen sie weg.
Aber es muss eine ehrliche Probe sein. Wenn man sich die Ohren verstopft, kann der beste Redner nichts. Man muss ihn unbefangen hören. Das ist Pflicht. Das darf er verlangen.
Die Wiener sind wunderlich. Albernes Insipides tragen sie geduldig, verzeihen, begütigen, entschuldigen immer, suchen mühsam Lob. Gnädigere, mildere Richter können Stümper nicht wünschen. Aber sie verwandeln sich ungestüm und werden Feinde, wenn ein Künstler redet. Den dulden sie nicht. Da wehren und sträuben sie sich heftig und hassen. Hämisch höhnen sie gleich, wenn er kommt, und mühen sich unablässig, alles anders, schmutzig, falsch zu deuten. Sie sind entschlossen, sich der Dichtung zu erwehren, und durch spöttische Rufe, Gelächter im Ernste, Gähnen, Husten, Schneuzen eifert einer den anderen an, jede Wirkung zu stören. Dann triumphieren sie, wenn es gelingt, wie über einen guten Sieg und geberden sich glücklich. Es ist in ihnen eine dumpfe Furcht vor der Kunst und mit jedem Mittel wollen sie sie um jeden Preis verhindern.

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Wien hat ein neues Theater. Es heisst nach dem alten Raimund, der immer Pech hatte. Herr Adam Müller-Guttenbrunn leitet es noch. Die Kapitalisten, die das Geld gaben, laufen in der Stadt herum und betteln, dass man ihnen das Geschäft nicht stören soll: es wird schon besser werden; sie suchen auch einen ordentlichen Direktor; man lasse ihnen nur Zeit. Ich will patriotisch sein und den Finanzen dieser kleinen Leute nicht schaden. Ich kann warten. Es wird immer noch Zeit sein, den verächtlichen Betrug zu schildern, den hier ein einst litterarischer Name decken soll.

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Ich will lieber eine Geschichte erzählen, die manchen wundert. Sie zeigt unsere Sitten. Gesinnung ist ja hier wenig üblich. So wirkt sie desto mehr. Leider handelt es sich um mich, und ich kann nur berichten, nicht urteilen. Es wäre ein Fall für meinen lieben Harden.
Ich habe meinen Kollegen von der Kritik letzte Woche diesen Brief geschickt:
»Ich teile Ihnen mit, dass ich heute aus dem Verbande der ›Deutschen Zeitung‹ geschieden bin und in diesem Blatte keine Zeile mehr schreiben werde. Man hat mir nämlich zweimal kritische Referate verstümmelt. Das lasse ich mir nicht gefallen.

Ich schrieb für die Nummer von Freitag den 14. über das Raimundtheater: In diesem Couplet wird das deutsche Volkstheater verhöhnt. Solchen Spott sollte der Direktor lassen, bis er einmal eine Vorstellung leisten wird, die sich mit der schlechtesten des Konkurrenten vergleichen darf. Der Chefredakteur, dem Herr Müller-Guttenbrunn sympathisch ist, liess nur den ersten Satz und strich den zweiten. Ich schrieb für die Nummer von Sonntag den 16. über das Burgtheater: Als Diana bewährte Fräulein Sandrock das schon an ihrer Madelon deutliche Talent, Unangenehmes angenehm, Heikles fein, Hoffart zierlich zu bringen; es muss ein Vergnügen sein, so graziös betrogen zu werden. Drastische Chargen, mondänes Laster und was Hevesi in dem lieben Buche über Zerline Nervenhumoresken‹ genannt hat, die ›feinkomischen Stimmungs- oder vielmehr Verstimmungsbilder aus dem weiblichen Nervenleben‹ sind ihre Region und sie weiss, ohne das der Strenge der Zeichnung etwas vergeben würde, Bedenkliches zu mässigen, Kanten zu glätten, immer schön und lieblich zu sein. Man sollte sie als Athenais, Frau von Berny, Jeanne, die weint, in den spitzen Molierischen Soubretten, deren niedlich lüsterne Gestalt sie hat, auch als verbuhltes Dortchen, sogar als widerspänstige Katharina versuchen, während ihr die gewissen thöricht naiven Kätzchen, die man ihr sonst giebt, augenscheinlich nicht behagen. Der Chefredakteur, dem das Fräulein nicht sympathisch ist, liess nur die erste Hälfte des ersten Satzes, alles andere strich er.
Da es sich mit meinen Begriffen von Kritik nicht verträgt, auf fremde oder eigene Sympathien oder Antipathien zu hören und eine Korrektur durch gewerbliche Interessen zu dulden, habe ich sofort meine Entlassung genommen.«
Hermann Bahr.