Hermann Bahr: Das junge Oesterreich. II, 27. 9. 1893

Das junge Oesterreich.

Von Hermann Bahr.

II.1

Ich habe gezeigt, daß das junge Oesterreich nichts mit den naturalistischen Experimenten der »jüngsten Deutschen« gemein hat. Es will vielmehr, da nun einmal unser Leben aus der deutschen Entwicklung geschieden und heute der deutschen Cultur nicht näher als irgend einer anderen ist, den Anhang der deutschen Literatur verlassen und nun aus der eigenen Art auch eine eigene Kunst gestalten. Es möchte – sonst hat es keinen vernehmlichen Trieb – es möchte recht österreichisch sein, österreichisch von 1890, was dann freilich Jeder wieder auf seine Weise versteht.
Jetzt will ich noch ein bischen die Einzelnen prüfen. Ich muß dabei dem geläufigen Gebrauche folgen, der nicht immer logisch ist: er läßt Manche ohne rechten Grund aus der Gruppe, die doch wenigstens als erste Boten und Läufer in sie gehören würden. So darf ich von Siegfried Lipiner, Richard Kralik und der delle Grazie, von den beiden Suttners, der Marriot und der Ossip Schubin, von Gustav Schwarzkopf, C. Karlweis und J. J. David nicht sprechen, die von der Schule verleugnet und es sich wohl auch selber verbitten würden, sondern Karl Baron Torresani, Arthur Schnitzler und Loris, dann die Lyriker Dörmann, Korff, Specht und endlich ein paar Worte über mich müssen genügen.
Torresani2 kann von Glück sagen. Es ist noch nicht fünf Jahre, daß der fröhliche Uhlane die erste Geschichte schrieb, und schon heißt er, was einem Künstler nicht leicht passirt, der »beliebte Erzähler«. Das kommt vielleicht daher, weil er eine unbesonnene, saloppe, liederliche Sprache, unpersönliche zufällige Formen, eine wüste Schlamperei hat, welche den üblichen Geschmack mit seinen künstlerischen Werthen wieder versöhnen. Die Empfindlichkeit für reine und vollkommene Sätze, die Begeisterung gefeilter Worte, das Gewissen der Mache fehlt ihm. Technisch ist er von der größten Unschuld, welche keine Sorgen, Gefahren, Beschwerden der Form ahnt. Er schreibt, wie es gerade kommt: au petit hasard de la plume und Kleckse verstören jede Schönheit. Man mag an Tovote denken, und so hat er auch diesen heiteren und leichten Fluß, den kein Kummer trübt. Alles ist ungesucht, ungekünstelt, ungezwungen. Er schwitzt nicht, würde Nietzsche sagen. Er hat eine solche Fülle von Ereignissen, Gestalten, Welten, die ohne Rast nach Offenbarung drängen, daß er nirgends halten, nicht verweilen, nimmer sich besinnen kann, und während er Eine gibt, quellen schon tausend Andere dazwischen. Er ist der rechte Fabulant wie damals jene Novellisten der Spanier und Italiener, mit der großen Leidenschaft der Fabel, der nichts als nur erzählen will, nur unerschöpflich immer erzählen. Er sucht nicht »Probleme«; er prüft keine »Fragen«; er will nichts zeigen; er will nichts schildern; er will nichts beweisen – das schöne Lügen ist seine Lust. Er ist weder Naturalist noch Psychologe und ist, wenn man will, doch beides: er ist der Erzähler, der Alles thut, was die Erzählung brauchen, und Alles läßt, was sie entbehren kann – das Bedürfniß der Erzählung allein ist immer sein einziges Gesetz. Er hat unvergeßliche Profile gezeichnet. Er hat Documente des Lebens gegeben. Er hat in der Juckercomtesse eine weibliche Psychologie geschaffen, die ihm Bourget neiden könnte. Aber das läuft so nebenbei mit. Was er will, ist nur die Erzählung, der üppige Reiz von vollen, bunten, wunderbaren Stoffen. Die Erzählung ist ihm Anfang und Ende. So hat er, was ich sonst von Keinem in dieser ganzen breiten Zeit der Literatur weiß: er hat den stillen, guten Zauber der naiven Kunst, wie er an den alten Märchen des Volkes ist. Man kann sagen, daß es niemals ein rechter Roman ist. Man kann zweifeln, ob es nach den Normen der Schulen überhaupt etwas ist. Aber man kann nicht leugnen, daß es sehr schön ist.
Arthur Schnitzler3 ist anders. Er ist ein großer Virtuose, aber einer kleinen Note. Torresani streut aus reichen Krügen, ohne die einzelne Gabe zu achten. Schnitzler darf nicht verschwenden. Er muß sparen. Er hat wenig. So will er es denn mit der zärtlichsten Sorge, mit erfinderischer Mühe, mit geduldigem Geize schleifen, bis das Geringe durch seine unermüdlichen Künste Adel und Würde verdient. Was er bringt, ist nichtig. Aber wie er es bringt, darf gelten. Die großen Züge der Zeit, Leidenschaften, Stürme, Erschütterungen der Menschen, die ungestüme Pracht der Welt an Farben und an Klängen ist ihm versagt. Er weiß immer nur einen einzigen Menschen, ja nur ein einziges Gefühl zu gestalten. Aber dieser Gestalt gibt er Vollkommenheit, Vollendung. So ist er recht der artiste nach dem Herzen des »Parnasses«, jener Franzosen, welche um den Werth an Gehalt nicht bekümmert, nur in der Fassung Pflicht und Verdienst der Kunst erkennen und als eitel verachten, was nicht seltene Nuance, malendes Adjectiv, gesuchte Metapher ist.
Der Mensch des Schnitzler ist der österreichische Lebemann. Nicht der große Viveur, der international ist und dem Pariser Muster folgt, sondern die wienerisch bürgerliche Ausgabe zu fünfhundert Gulden monatlich, mit dem Gefolge jener gemüthlichen und lieben Weiblichkeit, die auf dem Wege von der Grisette zur Cocotte ist, nicht mehr das Erste, und das Zweite noch nicht. Diesen Winkel des Wiener Lebens mit seinen besonderen Sensationen, wo sich wunderlich die feinsten Schrullen einer sehr künstlichen Cultur und die ewigen Instincte des menschlichen Thieres vermischen, hat er künstlerisch entdeckt und er hat ihn, indem er ihn gleich zur letzten Vollkommenheit des Ausdrucks brachte, künstlerisch erschöpft. Es ist ihm gelungen, was die Goncourts als Beruf des Künstlers setzten: apporter du neuf; und es ist ihm gelungen, die definitive Form seiner Neuerung zu geben. Das ist sehr viel. Gerade heute können es Wenige von sich sagen. Nur darf er freilich, weil sein Stoff ein weltlicher, von der Fläche der Zeit ist, Wirkungen in die Tiefe der Gefühle nicht hoffen, und von seinem feinen, aber künstlichen Geiste mag das Wort des Voltaire von Marivaux gelten: Il sait tous les sentiers du coeur, il n’en connaît pas le grand chemin.
Ich verstehe sehr gut, daß Manchen das nicht genügt. Ich verstehe nur nicht, daß man es an den Franzosen preist, aber an einem Wiener schmäht. Im »Anatol« sind ein paar Sachen, die den Vergleich mit den besten Meistern der Gattung vertragen und an flüssiger Anmuth, herbem Dufte, heiterer Melancholie Aurélien Scholl, Henri Lavedan und diesen vergötterten Courteline nicht zu scheuen haben. So wäre es wohl Pflicht der Directoren, einmal ihre Kraft auf der Bühne zu prüfen. Es wäre Pflicht der »Burg«, das »Märchen« zu bringen, das ja nun wenigstens am »Volkstheater« endlich kommen soll.
Im »Anatol« sind vorne, als Prolog, ein paar Verse:
Diese Verse sind sonderbar. Sie könnten von Emanuel Geibel oder Paul Heyse sein: sie haben diese leichte Sicherheit, das mühelose Glück, die reife Anmuth der goetheisirenden Epigonen, die in fertigen Formen fertige Gedanken, fertige Gefühle wiegen. Aber sie könnten auch von Maurice Barrès oder Nietzsche sein: so sehr haben sie an ihrer feinen, hochmüthigen, empfindlichen Grazie den scheuen Duft der letzten Stunde. Sie sind wie von einem herrisch heiteren Classiker, der unter die blassen und hilflosen Sucher der Decadence gegangen wäre. Sie sind von Loris.4
Loris, der Hugo von Hofmannsthal heißt, schreibt Prosa und Verse, Kritisches und Lyrisches. An der Prosa merkt man den Lyriker gleich: sie schwillt rhythmisch; schwüle Tropen, dunkle, üppige und schwere Farben, fremde Harmonien drängen, und was doch als Feuilleton gemeint ist, klingt wie ein griechischer Chor. Aber an den Versen wieder merkt man den kritischen Philosophen: sie sind mit quälenden Gedanken, moralischen Fragen und athemlosen Zweifeln der Bildung ängstlich beladen, daß man ihnen lieber die freiere Gelassenheit ungebundener Aphorismen wünschen möchte. So ist in ihm ein unerschöpflicher Gesang, der, wie er geflissentlich auch trockene, nüchterne, steife Themen des Verstandes wähle, nicht verstummen mag, daß ich für ihn immer an das Wort des Anatole France über Banville denken muß, den »der liebe Gott in seiner Güte mit der Seele einer Nachtigall schuf«. Aber es ist auch eine unermüdliche Dialektik in ihm, die mit kritischen Reflexionen die schöne Vogelfreude der Reime und Rhythmen immer wieder verstört.
Sein Stil trifft und er trifft ohne Mühe. Das nervöse Suchen, das Tasten mit unzulänglichen Vergleichen, die Qual um das fliehende Wort, das den rechten Gedanken, die letzte Note der Stimmung nicht geben will, sind ihm fremd. Er hat die Gnade der zeichnenden, malenden Form. So möchte man seine fröhliche Gesundheit rühmen, die sonst heute der gepeinigten Jugend fehlt. Aber die lauschende Empfindlichkeit, das helle Gesicht und Gehör seiner Nerven für die leisesten Reize ist von einer unheimlichen Feinheit, und aus seinen seltsam erregten Sätzen kommt es, ohne daß man vor sich diese Empfindung zu rechtfertigen wüßte, immer wie der kranke Hauch aus den fieberschwülen Kissen einer schmerzlichen und blassen Frau.
Das Erste, was er schrieb, war eine Studie über die physiologie de l’amour des Bourget, dieses müde Testament der erotischen Verzweiflung. Eine Studie über die »Mutter« folgte. Das waren für seine siebzehn Jahre wunderliche Stoffe, und auch in seinen Gedichten sind Züge eines reifen, traurigen Cynismus. So konnte er in den Ruf eines vor der Zeit erfahrenen, ja verdorbenen Jünglings kommen, und ich habe, als ich öffentlich seine Verse las, Hofräthe sich schamhaft entrüsten gesehen, die mit Mühe später durch saftige Anekdoten wieder zu versöhnen waren. Aber wenn er bisweilen von unreinen Dingen spricht, geschieht es doch immer in reiner Rede, vielleicht weniger aus Tugend, als aus Erzogenheit, aus Eleganz, aus Geschmack, der denn überhaupt seine vernehmlichste Gabe ist. Er wird nicht craß, wird nicht brutal, und die Grenzen der guten Gesellschaft sind immer gewahrt. Er brauchte sich nicht erst »auszutoben«; es gab keine Periode der »Räuber«, sondern der Jüngling begann gleich wie ein Mann, der sich gebändigt, geklärt und in der Gewalt hat. So hat er vielleicht die perverseste Natur, aber er hat sicherlich die reinlichsten Werke unter den Genossen.
Schöne Dinge, die funkeln, sind seine Leidenschaft. Schmale weiße Hände, die prunkenden Betten der Borgia und der Vendramin, Sänften, Fächer und Pokale, Reiher, Silberfische, Oleander, die vollen Farben und die breiten Klänge der Renaissance kommen immer wieder. Man möchte ihn unter jene trunkenen Apostel der Schönheit stellen, wie die englischen Prärafaeliten, die französischen Symbolisten, die vor der rauhen und gemeinen Oede des täglichen Lebens in blühende Träume der Vergangenheit entlaufen. Aber er liebt es, mit dem Naturalismus zu kokettiren, und neulich hat er diese naturalistische Formel der Kunst geschrieben: »Denn wie das rebellische Volk der großen Stadt hinausströmte auf den heiligen Berg, so liefen unsere Schönheits- und Glücksgedanken in Schaaren fort von uns, fort aus dem Alltag, und schlugen auf dem dämmernden Berg der Vergangenheit ihr prächtiges Lager. Aber der große Dichter, auf den wir Alle warten, heißt Menenius Agrippa und ist ein weltkluger, großer Herr: der wird mit wundervollen Rattenfängerfabeln, purpurnen Tragödien, Spiegeln, aus denen der Weltlauf gewaltig, düster und funkelnd zurückstrahlt, die Verlaufenen zurücklocken, daß sie wieder dem athmenden Tage Hofdienst thun, wie es sich ziemt.«
Also: Epigone und Moderner, lyrisch und kritisch, krank und gesund, pervers und rein, Symbolist und Naturalist zugleich – er scheint ein unerschöpfliches Räthsel. Vielleicht ist es diese Fülle unverträglicher Motive gerade, die seinen Reiz, seinen Zauber auf die Kenner gibt. Aber ich glaube: es mag auch noch was Anderes sein.
Die Literatur hat allerhand gelernt. Sie ist ohne Zweifel technisch heute über der Vergangenheit. Sie hat bessere Mittel. Das Vermögen wächst. Man kann heute mehr als vor zwanzig Jahren. Es fehlt nur an der Verwendung. Man weiß mit allen reichen Kräften nichts zu schaffen. Zwar sind neue Stoffe gewonnen: alle Winkel des Lebens werden geplündert, und besondere Fälle seltener Seelen werden gezeigt. Aber die heimlichen Fragen der Menschen, die Qualen der Bildung, die tausend Zweifel um den Sinn der Schöpfung fehlen. Das bange Gemüth hat keinen Trost. Das Wilhelm-Meisterliche, die sittliche Erziehung, der Rath in den Aengsten und Nöthen der Seele ist dieser neuen Kunst verloren. Das Weltliche, Vergängliche hält sie vom Ewigen weg.
Einige Franzosen, seit Bourget und Barrès, haben das jetzt erkannt. Die Deutschen kümmern sich nicht. Bei uns ist Loris der Einzige, der immer von moralischen Fragen handelt. Er sucht die Stellung des Menschen zur Welt, sucht Sinn und Bedeutung der Dinge, sucht Gewißheit für den Gang des Lebens. Er will Erweckung und Erbauung. Er hat das Wilhelm-Meisterliche.

(Ein Schluß-Artikel folgt.)

  1. 1 Siehe Nr. 7806 der »Deutschen Zeitung«.
  2. 2 »Aus der schönen wilden Lieutenantszeit.« – »Schwarzgelbe Reitergeschichten.« – »Mit tausend Masten.« – »Auf gerettetem Kahn.« – »Die Juckercomtesse.« – »Der beschleunigte Fall.« – »Oberlicht
  3. 3 »Alkandi’s Lied.« – »Reichthum.« – »Episode.« – »Anatol.« – »Das Märchen
  4. 4 Gedichte in der »Modernen Dichtung« und den »Blättern für die Kunst«. – Feuilletons in der »Modernen Kunst«, »Frankfurter Zeitung« und »Deutschen Zeitung«. – »Gestern«, Studie in einem Act in Reimen, und »Der Tod des Tizian«.