Hermann Bahr: Das Märchen, 2. 12. 1893

Das Märchen.

(Schauspiel in drei Aufzügen von Arthur Schnitzler. Zum ersten Male aufgeführt am Deutschen Volkstheater den 1. December.)

Man fühlt in jeder Scene dieses Stückes, daß es immer Kunst aus freien Wallungen der Seele, nirgends Mache, nirgends Geschäft, nirgends Rechnung auf die Laune der Menge ist. Es hat die heitere Unschuld einer reinen, durch keinen technischen Zwang verdorbenen Jugend, welche wie im Traume, ihren heimlichen Trieben gehorsam, elementarisch aus sich schafft. Das gibt ihm eine schöne Weihe.
Künstlerisch ist es ohne Zweifel, weil es kann, was es will, und ohne Rest seine Gefühle, seine Absichten formt. Fraglich mag es nur scenisch sein, ob das literarisch unanfechtbare Werk auch theatralische Kraft hat. Es würde nicht schlechter, wenn sie ihm fehlt, weil Kunst und Bühne, Werth und Wirkung sich nicht treffen müssen. Es kann etwas sehr theatralisch und gar keine Kunst, und es kann sehr künstlerisch und gar nicht Theater sein. Ja, wenn man den Räthen der Kenner glauben möchte, wie etwa der gute Vater Sarcey bisweilen redet, scheinen sie unversöhnlich. Künstlerisch ist jedes redliche Bekenntnis einer Natur, das die rechte Sprache ihrer besonderen Weise weiß. Theatralisch ist, was gefällt. Dort will Einer beichten. Hier soll er wirken. Dort gilt, was Einer aus sich bringt. Hier gilt, ob er es in den Hörer bringt. Kunst ist einsam, aber die Bühne will die Lust der Menge.
Die Wirkung kann versagen, weil der Hörer den Stoff, der gewählt wurde, oder weil er die Form, die gegeben wurde, nicht empfangen will. Der Stoff kann gegen das Gefühl, gegen den Geschmack, gegen die Gewohnheit der Hörer sein. Oder er kann ihren Wünschen, Trieben und Bräuchen gemäß, aber in der Führung fremd und anders und unverträglich sein. Stoff und Führung sind an jedem Stücke zu prüfen. Sie entscheiden seine Kraft.
Als Thema wird im »Märchen« zuerst die Eifersucht gemeldet, die Eifersucht auf die Vergangenheit der Geliebten. Das ist dem Sinne der üblichen Hörer geläufig. Ich gestehe, daß ich anders fühle. In der Gegenwart mag ich es begreifen: es ist in der Natur der Liebe, daß sie nicht theilen will; freilich könnte man fragen, warum denn dann noch keinen Liebhaber der Gatte genirt hat. Auch auf die Zukunft fühle ich sie: der Gedanke ist in der That unerträglich, daß sie nach mir einem Anderen gehören, die süßen Worte sagen und noch einen Rest der Seele haben könnte, der nicht lange an mich vergeben und von mir erschöpft wäre. Aber auf die Vergangenheit kenne ich sie nicht, und das Hebbel’sche, daß darüber hinweg kein Mann kann, war mir immer ein philiströs absurdes Wort: sie thut mir höchstens leid, daß sie das Pech hatte, mir nicht früher zu begegnen. Ich könnte auch zeigen, daß viele Künstler Frauen mit Vergangenheiten haben, und ich habe oft, erst heuer wieder am Grundlsee, Bauern mit der größten Ruhe ihres unbefangenen Gemüthes über den ersten Geliebten ihrer Geliebten, ihrer Frau gehört; so treffen sich hier die freie Moral der Großen und die alte Sitte des Volkes. Doch weiß ich, daß die Menge der üblichen Hörer, die gerade im Theater entscheiden: unsere bürgerliche Gesellschaft, hier anders empfindet. Ihr ist die Eifersucht auf die Vergangenheit vertraut und unerläßlich.
Man darf also gegen dieses Thema nichts sagen. Es stimmt mit den Forderungen der Bühne. Es trifft die Meinung der Menge. Es ist theatralisch. Aber es konnte zwei Stücke geben. Der Dichter konnte es doppelt führen, indem er entweder die Werke dieser Eifersucht oder den Kampf gegen sie zeigte.
Er konnte die Eifersucht der Vergangenheit am Werke zeigen; wie etwa Othello die Eifersucht in der Gegenwart zeigt: er nahm dann eine Liebe und ließ sie an der Vergangenheit des Mädchens verderben, die allmälig sei es gestanden, sei es verrathen wird; der Schmerz des Mannes zwischen Leidenschaft und Ehre und die Buße der Gefallenen waren da die Kräfte, die die Handlung trieben. Oder er konnte einen Spötter gegen diese Eifersucht zeigen, der sich über sie heben will, aber leidend von ihrem Rechte gezwungen wird; er schrieb dann das Stück, das Gaston Salandri als »Le Grappin« geschrieben und die Pariser Freie Bühne gespielt hat, die Geschichte des Herrn Jacques Privat, der das Vorurtheil verachtet und sich mit seiner Geliebten vermält, obwohl er weiß, daß sie vor ihm Anderen gehörte und liederlich lebte; da wird gezeigt, daß alle Liebe die Vergangenheit nicht tilgen, nicht verwischen kann, ja, durch die tausend Stiche der Nerven, des Gemüthes und die Kränkungen der Ehre sich in Zorn, Ekel, Haß verwandeln muß. Mit dem ersten Stücke geht der Hörer, auch wenn er diese Eifersucht nicht hat, weil er sich doch aus Anderen in sie denken kann. Mit dem zweiten kann er gegen das Vorurtheil, das ja von dem Helden bestritten, und er kann für das Vorurtheil mit ihm gehen, das doch schließlich bestätigt wird. Er ist Beiden empfänglich.
Aber hier geschieht das Eine nicht, und es geschieht nicht das Andere. Das »Märchen« ist zwischen den zwei möglichen Stücken. Es springt aus dem zweiten, wie es beginnt, unvermuthet dann plötzlich ins erste. Herr Fedor Denner, der die schöne Fanny Theren liebt, scheint anfangs der Meinung jenes Franzosen, daß die Leidenschaft nicht nach der Vergangenheit fragt, gegen die übliche Moral, gegen das thörichte »Märchen von den Gefallenen«, gegen den Dünkel des Mannes, »Unnatürliches vom Weibe zu fordern und eine zu verachten, weil sie gewagt, zu lieben, bevor wir um ihre Liebe warben«. Das klingt sehr tapfer. Aber es dauert nicht. Nicht als ob ihn etwa Erfahrung anders stimmen, besser lehren, überführen würde, sondern er versagt und muß plötzlich merken, daß er bei allen vermeintlich eigenen Gedanken genau wie die Anderen fühlt, in der Schablone, an der Krücke der Väter. Sein Gefühl hat nicht den Muth seines Verstandes. Er empfindet hinter seinen Begriffen. So wird nicht gezeigt, daß das Vorurtheil Recht hat. Es wird auch nicht gezeigt, daß seine Meinung recht hat. Es wird nur gezeigt, daß er gar nicht seine gepriesene Meinung, sondern gerade das verhöhnte Vorurtheil hat.
Also unter dem ersten Scheine auf einmal ein zweites Thema: der Zwist von Denken und Fühlen, wie das Herz dem Kopfe nicht gehorchen mag und sich an gewohnte Triebe klammert – das rechte Thema unseres Geschlechtes, das zwischen zwei Zeiten ist, neu im Gehirne, das der Zukunft gehört, alt im Gemüthe, das die Vergangenheit nicht verwindet. Das ist künstlerisch sehr fein, weil es die Wahrheit an unserer empfindlichsten Stelle trifft und in der That das Leben gern jede Frage in einer anderen versteckt. Aber theatralisch ist es falsch, weil es gegen die erste Gebühr der Bühne, gegen die klare, strenge, pedantische Ordnung des scenischen Verlaufes stößt. Die Bühne braucht deutliche und rasche Folgen. Der Hörer muß gleich in die Dinge gebracht, von ihnen gepackt, durch sie gezwungen werden. Er darf nicht erst suchen und zweifeln. Wenn er schwankt, ist die Wirkung schon gehemmt, weil er dann zaudern, sich besinnen, prüfen kann; es stockt der Fluß gehorsamer Gefühle. Aber wenn er gar sich plötzlich wenden, das erste Thema verlassen, mit einem anderen rechnen soll, ist es aus. Er thut dann nicht mehr mit. Er traut nicht mehr. Er wird sich nicht am Ende noch ein zweites Mal beschämen lassen, wenn der Dichter etwa im dritten Acte wieder eine andere Laune hat. Er haßt jetzt das Stück, das ihn täuschte. Er murrt, als ob es ihn verlachen, als ob es ihn äffen, als ob man ihn da oben »frozzeln« wollte. Da wehrt er sich gekränkt und schlägt aus. Der Dichter soll nur nicht glauben, gescheidter zu sein – das wird er ihm schon vertreiben. So ist Ironie auf der Bühne nicht möglich, nicht gegen Andere, und gegen sich selber schon gar nicht, weil sie vom Hörer nur als Spott, Beleidigung und Dünkel empfunden wird. Was einmal gebracht wurde, läßt er sich nicht mehr nehmen. Was einmal behauptet wurde, soll unabänderlich gelten. Was er einmal fühlt, gibt er nicht wieder her. Er fragt im ersten Acte: Was wird verhandelt, wo ist das Thema, wer ist der Held? Nun stellt er seine Gefühle auf, für dieses, gegen jenes, und theilt seine Stimmungen aus, so oder so. Unbewußt macht er sich selber ein Stück, das er dann von dem Autor unerbittlich verlangt. Kein anderes will er dulden. Der erste Act muß im Hörer wecken, was die anderen halten. Die anderen müssen bringen, was der erste verspricht. Sonst kann es nicht treffen. Das ist das ganze Einmaleins der Wirkung.

Das fehlt dem »Märchen«, um vom künstlerischen Werthe zur scenischen Kraft zu kommen. Es fehlt, was der gute, dicke Sarcey mit dem deutlichen Gewissen der theatralischen Instincte immer gleich an jedem Stücke fragt: Es hat keine idée maitresse – es hat keinen Kern, der die Gefühle um sich sammeln, fassen, einigen würde. Es schlägt im Hörer ein Stück um das andere an, aber keines wird gehalten. Da ist das Stück von den Gefallenen, mit dem Thema der »Denise« und der »Vergini«. Dann das Stück jenes Zwistes von Verstand und Gefühl, das auch ich einmal, im Sturme der ersten Jugend, mit meinen »neuen Menschen« versuchte. Aber plötzlich ein drittes Stück, wie kleine Nervositäten große Leidenschaft verstören. Und ein viertes, ob man denn überhaupt, auch wenn sie Tugend hätte, eine Schauspielerin lieben darf und die kitzliche Ehre des Liebenden sich je in die Sitten dieses Gewerbes schickt. Vier Stücke so in drei Acten, eines in das andere verkapselt, wie im Leben, das auch nirgends ein Thema allein, sondern immer bunte Wechsel verhandelt. Aber diese unpräparirte, in Wust verwurzelte und volle Wahrheit, die noch ihre dunkle Erde an den Knollen trägt, mag der Hörer nicht, der in den alten Sitten der Bühne auf reinliche, aus aller Nachbarschaft gelöste und logisch geordnete Stoffe erzogen ist.
Und noch nicht genug. Da ist noch mehr, den Hörer erst recht zu ängstigen und klemmen. Das geschieht durch seine Weise von Psychologie.
Psychologie ist auf der Bühne nicht neu. Alle echte Komödie, von Beaumarchais und Diderot über Molière und Shakespeare bis Plautus und Terenz, lebt von ihr. Nur ist sie da freilich dramatische Psychologie. Sie bringt blos, was dramatisch treiben kann. Sie verzichtet, den ganzen Menschen zu geben. Sie holt aus seiner Seele, was der Handlung dient. Sie nimmt ihn nicht in seiner Fülle, wie er wird und wächst, versagt und erstarkt und in jedem Schicksale wechselt. Sie wählt ein einzelnes Stück, das ihrer Fabel eben paßt. Die Fabel braucht etwa Liebe. Da ist es klar, daß im Leben ein Liebender immer doch nebenbei auch noch was Anderes ist. Die Liebe schöpft seine Seele nicht aus. Der Liebende kann ein Spötter und kann sentimental, ein Träumer oder thätig, wild oder besonnen sein. Die Liebe ist nur ein Stück; daneben hat seine Seele noch Anderes. Aber dramatische Psychologie kümmert das nicht. Diesen Rest mag sie nicht zeigen. Sie zeigt von dem Liebenden nichts als die Liebe und zeigt auch von der Liebe wieder nur, was dem scenischen Verlaufe hilft. So ist es der Brauch der Psychologie auf der Bühne.
Ich möchte nun deßwegen noch nicht gleich behaupten, daß die Bühne überhaupt keine andere Psychologie vertragen kann. Einige Franzosen, Henri Becque, Lavedan und Porto-Riche, suchen sie jetzt eifrig, und man muß erst warten, ob es, wie es ihnen gelingt. Aber man versteht doch gleich, daß sie nicht leicht auf den üblichen Hörer wirken, der mit anderen Hoffnungen kommt. Er ist anders gedrillt. So können sie ihn nicht treffen. Sie wollen den ganzen Umfang, den ganzen Inhalt und alle bunte Fülle einer Seele geben. Er ist gewohnt, daß Alles immer nur der Handlung, dem Gange der Fabel dienen soll. Sie bringen Alles, was im Charakter ist, ohne Wahl und Sichtung. Er ist gewohnt, daß nichts gebracht wird, was nicht den Lauf der Scenen treibt. Ihnen gilt es die ganze, volle Wahrheit ohne Rest und Makel. Ihm gilt es rasche, reiche und verschlungene Fabel. So kann er sie nicht verstehen, und sie können ihn nicht gewinnen. Er deutet ihre Zeichen falsch und wird irre. Was auf der Bühne geschieht, verzeichnet er und denkt: »Aha, das muß man sich merken – das soll offenbar auf eine Wendung deuten, die später kommen wird!« Und er wird verführt und wartet jetzt und wartet umsonst, verdrießlich, wenn dann nichts mehr folgt, weil sie ja nicht, wie er meint, die Mittel der nächsten Wirkungen rüsten, sondern blos, was er nicht gewohnt ist, ganze Menschen mit allen Noten geben wollen. So kennt er sich schließlich gar nicht mehr aus, was denn das Alles überhaupt soll, und zürnt dem Dichter, daß er kein Kadelburg ist. Es mag noch eine gute Weile brauchen, bis diese zögernde Gewohnheit der trägen Hörer durch verwegene Neuerung gebrochen und erzogen wird.
Diese Dinge schwächen die Wirkung des Stückes. Es ist nicht etwa ein untheatralisches Werk der reinen Literatur – so ein künstlerisches Buch, das auf der Bühne versagt. Es hat theatralische Kräfte. Aber es übt sie in einer fremden, ungewohnten neuen Art, die die lieben alten Sitten stört und eine andere Bildung der Hörer verlangt. Es sucht seine eigenen Zeichen, das öde Einerlei zu brechen und kühne Formen zu gewinnen. Es ist ein tapferes Experiment. Wer eine Verjüngung der Bühne wünscht, muß es dankbar grüßen und seine Fehler sogar lieben, weil sie die Mühe des Nächsten kürzen. Wer freilich an der Schablone klebt und keinen Wechsel der Schönheit duldet, verdient es gar nicht. So scheidet es im Parterre die Böcke von den Schafen.
Mir thut nur leid, daß ich heute nicht Maximilian Harden bin. Ich bedaure, daß es nicht meine Sache ist, das Publicum zu recensiren. Es wäre nur billig, daß, wer die Schauspieler oben richtet, auch die Hörer unten züchtigen darf, wenn sie an der Kunst sich versündigen, und ich würde ihnen nette Dinge sagen. Die Schwärmer für die »Palastrevolution«, die sich plötzlich kritisch fühlen, die Bewunderer des »Mauerblümchen«, die sich plötzlich sittlich fühlen! Und die »gemüthlichen« Wiener, die alles, nur Talent nicht vertragen, verdienten ihren Juvenal redlich.
Aber zwei Acte lang durfte der Neid sich nicht regen. Zwei Acte siegte der Dichter. Da stand schirmend die Sandrock neben ihm, wie mit dem hellen Schwerte neben guten Helden die kluge Pallas Athene. Ich habe sie immer bewundert und ich habe es oft gesagt. Heute fehlt mir die Rede. Es klänge überschwänglich und wäre doch nüchtern, grob und stumpf neben meiner Ergriffenheit, meinem Taumel, meiner seligen Läuterung der Seele. Wenn so einem frivolen, verdorbenen und nichtigen Scribenten einmal ein paar Minuten lang das schöne Glück der reinen Thränen geschieht, soll er es stumm und heimlich genießen. Worte könnten nur entweihen. Man weiß, wie sie alles, wenn sie nur kommt, gleich in Würde und Bedeutung rückt. Man kennt ihren tapferen Verstand, die Lücken der Dichtung zu treffen und zu füllen. Aus den leisesten Winken des Dichters holte sie die heimlichsten Nuancen und half, wo er zaudert, mit malender, rathender Geste. Aber im dritten Acte, wo die Dichtung lahmt, gab sie aus Eigenem eine Tragödie dazu, die auf dem Wege des Dichters lag, ohne daß er sie heben konnte: die Tragödie von der sittigenden Kraft des Leides. Sie schien das edle Wort des Adalbert Stifter zu spielen: »Der Schmerz ist ein heiliger Engel und durch ihn sind Menschen größer geworden als durch alle Freuden der Welt.« So brachte sie, was dem Stücke fehlt: einen Schluß. Wir wissen, daß das arme, kleine Mädchen nicht verderben wird: sie ist gut durch den Schmerz und eine Künstlerin geworden. Eine edle Zukunft wird eröffnet und eine große Perspective ist da. Wir werden geläutert und tröstlich entlassen.
Auch Herr Giampietro und Herr Kutschera, als dumme Wiener »Lebebuben«, waren unübertrefflich. Von Herrn Kutschera muß ich das besonders sagen. Er ist oft elend, niederträchtig, schändlich, weil man ihn in falsche Rollen stellt. Aber ich weiß jetzt, daß er ein Künstler ist.
Herr Nhil schien heute ohne rechte Lust. Herr Tewele, Herr Weisse, Herr Eppens, Herr Meixner, Frau Berg, Fräulein Gribl störten nicht, nicht einmal Fräulein Hell. Fräulein Bock wurde in der Burg besser verwendet: da ließ man sie nicht spielen.
Hermann Bahr.