Es ist jetzt eben zehn Jahre her, daß der »
Anatol« erschien. Er hatte sogleich einen großen Erfolg: denn man wunderte und freute sich,
mit welcher Anmut hier ein junger
Wiener über alle kleinen Künste gebot, die man sonst nur den
Franzosen zugetraut hatte, und dabei seinen eigenen Ton durchzubringen, einen persönlichen
Reiz zu behaupten wußte. Die gute Laune der Darstellung, die Keckheit der ungezwungenen
Sprache, welche doch ihre Haltung niemals verlor, ein Hauch von jener Melancholie,
die der Wollust zu folgen pflegt, eine Nervosität, begreiflich an einem nachdenklichen,
ja fast philosophischen jungen Menschen, der sich aber von der süßen Albernheit dieser
kleinen Mädchen nicht losmachen kann, ein leiser Spott, der sich lieber noch gegen
sich selbst als gegen die anderen wendet, dies alles war so wienerisch und doch so
neu, daß man sich vor Vergnügen gar nicht fassen konnte, und als nun gar seine »
Liebelei« kam, die freilich im dritten Akt schon diese enge Welt einer städtischen Erotik
verläßt, um ins Menschliche zu dringen, da war er über Nacht mit einem Male berühmt.
Es war nun nur die Gefahr, daß er sich, vom Erfolge verlockt, zur Manier verführen
lassen und sich behaglich, wie mancher der jungen
Pariser in jener Zeit, sozusagen als
cochon triste etablieren würde; und ich habe diese
Befürchtung damals ausgesprochen, gereizter und heftiger, als es notwendig gewesen wäre, aber eigentlich doch in einer
guten Gesinnung: denn es galt, ihn von seiner nächsten unmittelbaren Welt weg über
sich selbst, über Launen und Grillen des Tages hinauszureißen und eben dadurch erst
zu sich, zur Besinnung, zur Entwicklung zu bringen.
Goethe hat einmal zu
Eckermann gesagt: »
Solange ein Dichter bloß seine wenigen subjektiven Empfindungen ausspricht, ist er
noch keiner zu nennen; aber sobald er die Welt sich anzueignen und auszusprechen weiß,
ist er ein Poet. Und dann ist er unerschöpflich und kann immer neu sein, wogegen aber
eine subjektive Natur ihr bißchen Inneres bald ausgesprochen hat und zuletzt in Manier
zugrunde geht.« Diese Probe hatte
Schnitzler zu bestehen, das war mein Gefühl. Er hätte mich aber gar nicht gebraucht, denn in ihm ist jene wunderbare Ungeduld der ganz ehrlichen Menschen, die sich niemals
beruhigen, bei keinem Erfolge verweilen, sondern unerbittlich von sich das Höchste
zu fordern entschlossen sind. Vom »
Anatol« zum »
Schleier der Beatrice«, welch ein Weg! Wie muß dieser Dichter mit sich gerungen, wie vielem muß er entsagt,
wie unablässig muß er sich ausgebildet haben! Man sollte wirklich meinen: schon aus
Respekt vor dieser hohen Arbeit allein, aus Verehrung einer so reinen künstlerischen
Gesinnung hätte man ihm dankbar zujauchzen müssen. Doch sind die Menschen ein wunderlich
Geschlecht und immer noch den alten
Ephesiern gleich, die
Hermodoros, ihren wackersten Mann, aus der Stadt jagten, mit den Worten: »Von uns soll keiner der Wackerste sein oder,
wenn schon, dann anderswo und bei anderen.« Dies erzählt uns
Heraklit und fügt, der Grobian, hinzu: Recht täten darum die
Ephesier, wenn sie sich alle, Mann für Mann, aufhängen und den Unmündigen ihre Stadt hinterlassen
würden.
Die »
Lebendigen Stunden« kennt man ja von der angenehmen Aufführung her, die
Brahm voriges Jahr im
Carl-Theater gegeben hat. Von den vier in der Stimmung, im Tone so wechselnden und doch geistig
so fest zusammengehaltenen Akten wird der letzte dem Publikum immer am besten gefallen;
wie da Weltmann, Literat und Dilettantin sich heiter durcheinanderschlingen und ironisch
umeinander wiegen, das ist in der Tat charmant, mag dabei die Gerechtigkeit auch ein
bißchen verschoben sein, da doch im Leben, seien wir nur aufrichtig, meistens der
verbummelte Skribent immer noch erträglicher ist als ein alberner Aristokrat, was
der Dichter selbst wohl auch ganz gut weiß. Der stärkste ist der dritte, die »
Letzten Masken«, wo die innere Verwilderung eines
raté so grausam neben die innere Erstarrung eines Günstlings gestellt wird, daß wir uns
am Ende ganz entsetzt sagen: Verunglücken oder reussieren, es wird einem die Wahl
schwer, das eine bringt den Menschen ebenso herab als das andere! Der liebste ist
mir die »
Frau mit dem Dolch«. Ich habe auch den ersten sehr gern, die »
Lebendigen Stunden«, um ihrer herbstlichen Wehmut und Stille willen, wenn sie auch freilich auf lyrischen
Füßen leiser gehen, als es im Theater, will man wirken, erlaubt ist. Aber die »
Frau mit dem Dolche« ziehe ich noch vor, weil sie an unsere tiefsten Stimmungen rührt. Freilich fragt
das Publikum am Ende, was sie denn eigentlich »bedeuten«, was das Ganze heißen soll,
und es will, daß wir ihm den Sinn bei Heller und Pfennig vorrechnen und herausbezahlen
sollen. Worauf ich schon voriges Jahr geantwortet habe:
Wenn ich das könnte, wäre er kein Dichter und es wäre kein Gedicht. Wie es einem nun aber meistens passiert, wenn man sich vergißt und einmal etwas Gescheites
sagt, habe ich dadurch manche Leute sehr aufgebracht und sie haben mich ausgelacht.
Ich kann ihnen jedoch nur wiederholen, daß es wirklich das Amt der Poesie war, ist
und sein wird, Unaussprechliches, da es sich mit Worten nicht mitteilen läßt, uns
an einem Beispiele, an einem Falle zu zeigen, der uns, was nun einmal nicht gesagt
werden kann, wenigstens fühlen läßt. Wer mir das nicht glauben will, schlage seinen
Hebbel nach, wo geschrieben steht: »
Wehe dem Dichter, dessen Werk man im gemeinen Verstande kapieren kann! Er ist entweder
nichts oder hat wenigstens nichts gemacht.« Oder er erinnere sich, daß
Goethe die Kunst »
eine Vermittlerin des Unaussprechlichen« genannt und darum resolut gesagt hat: »
Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto
besser.«
Die »
Frau mit dem Dolch« schlägt manches an, was wohl jeder einmal gespürt hat, wenn man sich sonst auch
gern beeilt, von solchen unheimlichen Stimmungen loszukommen. Wir tun oft, was für
uns gar keinen Sinn hat, was uns auch nicht einmal Freude macht, was wir eigentlich
gar nicht wollen, wovon wir uns geheimnisvoll gewarnt fühlen, wovor wir eher zurückschauern.
Aber es reizt uns. Der Verstand zählt uns die Folgen vor. Wir sehen ein, er hat recht;
wir beschließen, ihm zu gehorchen. Es hilft aber alles nichts; wir tun es doch, oder
eigentlich müßte man fast sagen: es wird doch mit uns getan. Es ist stärker als wir:
es reizt uns. Es reizt uns, obwohl es uns gar nicht freut, obwohl es uns gefährlich
und verderblich ist. Vielleicht gerade: weil es uns gefährlich und verderblich ist.
Vielleicht gerade aus Lust an der Gefahr, am Verderben. Das ist doch absurd, wird
man sagen. Man lese aber
Edgar Poe nach, der gern die Macht zeigt, die das Absurde über den Menschen hat, und wie sie
ihn stößt, eben das zu tun, was die Vernunft ihn vermeiden heißt. Wer sich über einen
Abgrund neigt, den zieht es herab. Die Heiligen, welche die Sünde erkennen, werden
von ihren Lockungen am heftigsten heimgesucht. Wie sollen wir uns das erklären? Wie
sollen wir es uns überhaupt erklären, wenn unser Gefühl begehrt, was unsere Vernunft
uns versagt? Wir meinen dann wohl (einen Ausdruck von
Barrès anzuwenden), es seien die
Toten in uns, die mächtiger sind als wir selbst. Es ist irgend ein fürchterlicher Urgroßvater in mir, der immer noch nicht sterben
will und dessen ich mich nicht erwehren kann. Der regt mein Blut auf und reißt mich
zu Taten hin, denen meine Vernunft längst entwachsen ist. Daher alle die Gespenstergeschichten
von Familien, in welchen eine grauenhafte Tat, einmal verübt, so blutig auf allen
Nachkommen liegt, daß sie immer wieder wiederholt wird; man erinnere sich etwa der
»
Elixiere des Teufels«. Wir lachen aufgeklärt darüber, aber wer ist unter uns, der nicht am hellen Tage
schon mit solchen Gespenstern gerungen hätte? Und schließlich geschieht mit jenem
Pater Medardus auch nur genau dasselbe, wie mit dem Coupeau in »
L’Assommoir«. Von hier ist es nun gar nicht mehr weit und wir fühlen jenen verruchten Urgroßvater
so stark in uns, daß wir uns einbilden, wir selbst hätten damals seine Tat verübt:
wir hätten schon einmal in einer anderen Zeit in anderer Gestalt gelebt. Und vielleicht
bilden wir uns das nicht bloß ein. Es gibt Menschen, die darauf schwören. Aber freilich,
wir raffen uns auf, wir fühlen, daß wir uns dem nicht hingeben dürfen, ohne über die
Grenzen zu geraten. Wir spielen nur manchmal damit ein wenig. Wir schließen die Augen
und dämmern ein. Und dann erinnern wir uns. Aber plötzlich tönen die Glocken wieder,
die
Frau mit dem Dolche erwacht, Paola ist wieder zur Pauline geworden, es war nur ein Traum. Aber freilich:
Was ist Wahrheit, was ist Traum?
Hermann Bahr.