Hermann Bahr: Lebendige Stunden, 15. 3. 1903

Lebendige Stunden.

(Vier Einakter: »Lebendige Stunden«, »Die Frau mit dem Dolche«, »Die letzten Masken«, »Literatur« von Arthur Schnitzler. Im Deutschen Volkstheater zum ersten Male aufgeführt am 14. März 1903).

Es ist jetzt eben zehn Jahre her, daß der »Anatol« erschien. Er hatte sogleich einen großen Erfolg: denn man wunderte und freute sich, mit welcher Anmut hier ein junger Wiener über alle kleinen Künste gebot, die man sonst nur den Franzosen zugetraut hatte, und dabei seinen eigenen Ton durchzubringen, einen persönlichen Reiz zu behaupten wußte. Die gute Laune der Darstellung, die Keckheit der ungezwungenen Sprache, welche doch ihre Haltung niemals verlor, ein Hauch von jener Melancholie, die der Wollust zu folgen pflegt, eine Nervosität, begreiflich an einem nachdenklichen, ja fast philosophischen jungen Menschen, der sich aber von der süßen Albernheit dieser kleinen Mädchen nicht losmachen kann, ein leiser Spott, der sich lieber noch gegen sich selbst als gegen die anderen wendet, dies alles war so wienerisch und doch so neu, daß man sich vor Vergnügen gar nicht fassen konnte, und als nun gar seine »Liebelei« kam, die freilich im dritten Akt schon diese enge Welt einer städtischen Erotik verläßt, um ins Menschliche zu dringen, da war er über Nacht mit einem Male berühmt. Es war nun nur die Gefahr, daß er sich, vom Erfolge verlockt, zur Manier verführen lassen und sich behaglich, wie mancher der jungen Pariser in jener Zeit, sozusagen als cochon triste etablieren würde; und ich habe diese Befürchtung damals ausgesprochen, gereizter und heftiger, als es notwendig gewesen wäre, aber eigentlich doch in einer guten Gesinnung: denn es galt, ihn von seiner nächsten unmittelbaren Welt weg über sich selbst, über Launen und Grillen des Tages hinauszureißen und eben dadurch erst zu sich, zur Besinnung, zur Entwicklung zu bringen. Goethe hat einmal zu Eckermann gesagt: »Solange ein Dichter bloß seine wenigen subjektiven Empfindungen ausspricht, ist er noch keiner zu nennen; aber sobald er die Welt sich anzueignen und auszusprechen weiß, ist er ein Poet. Und dann ist er unerschöpflich und kann immer neu sein, wogegen aber eine subjektive Natur ihr bißchen Inneres bald ausgesprochen hat und zuletzt in Manier zugrunde geht.« Diese Probe hatte Schnitzler zu bestehen, das war mein Gefühl. Er hätte mich aber gar nicht gebraucht, denn in ihm ist jene wunderbare Ungeduld der ganz ehrlichen Menschen, die sich niemals beruhigen, bei keinem Erfolge verweilen, sondern unerbittlich von sich das Höchste zu fordern entschlossen sind. Vom »Anatol« zum »Schleier der Beatrice«, welch ein Weg! Wie muß dieser Dichter mit sich gerungen, wie vielem muß er entsagt, wie unablässig muß er sich ausgebildet haben! Man sollte wirklich meinen: schon aus Respekt vor dieser hohen Arbeit allein, aus Verehrung einer so reinen künstlerischen Gesinnung hätte man ihm dankbar zujauchzen müssen. Doch sind die Menschen ein wunderlich Geschlecht und immer noch den alten Ephesiern gleich, die Hermodoros, ihren wackersten Mann, aus der Stadt jagten, mit den Worten: »Von uns soll keiner der Wackerste sein oder, wenn schon, dann anderswo und bei anderen.« Dies erzählt uns Heraklit und fügt, der Grobian, hinzu: Recht täten darum die Ephesier, wenn sie sich alle, Mann für Mann, aufhängen und den Unmündigen ihre Stadt hinterlassen würden.
Die »Lebendigen Stunden« kennt man ja von der angenehmen Aufführung her, die Brahm voriges Jahr im Carl-Theater gegeben hat. Von den vier in der Stimmung, im Tone so wechselnden und doch geistig so fest zusammengehaltenen Akten wird der letzte dem Publikum immer am besten gefallen; wie da Weltmann, Literat und Dilettantin sich heiter durcheinanderschlingen und ironisch umeinander wiegen, das ist in der Tat charmant, mag dabei die Gerechtigkeit auch ein bißchen verschoben sein, da doch im Leben, seien wir nur aufrichtig, meistens der verbummelte Skribent immer noch erträglicher ist als ein alberner Aristokrat, was der Dichter selbst wohl auch ganz gut weiß. Der stärkste ist der dritte, die »Letzten Masken«, wo die innere Verwilderung eines raté so grausam neben die innere Erstarrung eines Günstlings gestellt wird, daß wir uns am Ende ganz entsetzt sagen: Verunglücken oder reussieren, es wird einem die Wahl schwer, das eine bringt den Menschen ebenso herab als das andere! Der liebste ist mir die »Frau mit dem Dolch«. Ich habe auch den ersten sehr gern, die »Lebendigen Stunden«, um ihrer herbstlichen Wehmut und Stille willen, wenn sie auch freilich auf lyrischen Füßen leiser gehen, als es im Theater, will man wirken, erlaubt ist. Aber die »Frau mit dem Dolche« ziehe ich noch vor, weil sie an unsere tiefsten Stimmungen rührt. Freilich fragt das Publikum am Ende, was sie denn eigentlich »bedeuten«, was das Ganze heißen soll, und es will, daß wir ihm den Sinn bei Heller und Pfennig vorrechnen und herausbezahlen sollen. Worauf ich schon voriges Jahr geantwortet habe: Wenn ich das könnte, wäre er kein Dichter und es wäre kein Gedicht. Wie es einem nun aber meistens passiert, wenn man sich vergißt und einmal etwas Gescheites sagt, habe ich dadurch manche Leute sehr aufgebracht und sie haben mich ausgelacht. Ich kann ihnen jedoch nur wiederholen, daß es wirklich das Amt der Poesie war, ist und sein wird, Unaussprechliches, da es sich mit Worten nicht mitteilen läßt, uns an einem Beispiele, an einem Falle zu zeigen, der uns, was nun einmal nicht gesagt werden kann, wenigstens fühlen läßt. Wer mir das nicht glauben will, schlage seinen Hebbel nach, wo geschrieben steht: »Wehe dem Dichter, dessen Werk man im gemeinen Verstande kapieren kann! Er ist entweder nichts oder hat wenigstens nichts gemacht.« Oder er erinnere sich, daß Goethe die Kunst »eine Vermittlerin des Unaussprechlichen« genannt und darum resolut gesagt hat: »Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.«
Die »Frau mit dem Dolch« schlägt manches an, was wohl jeder einmal gespürt hat, wenn man sich sonst auch gern beeilt, von solchen unheimlichen Stimmungen loszukommen. Wir tun oft, was für uns gar keinen Sinn hat, was uns auch nicht einmal Freude macht, was wir eigentlich gar nicht wollen, wovon wir uns geheimnisvoll gewarnt fühlen, wovor wir eher zurückschauern. Aber es reizt uns. Der Verstand zählt uns die Folgen vor. Wir sehen ein, er hat recht; wir beschließen, ihm zu gehorchen. Es hilft aber alles nichts; wir tun es doch, oder eigentlich müßte man fast sagen: es wird doch mit uns getan. Es ist stärker als wir: es reizt uns. Es reizt uns, obwohl es uns gar nicht freut, obwohl es uns gefährlich und verderblich ist. Vielleicht gerade: weil es uns gefährlich und verderblich ist. Vielleicht gerade aus Lust an der Gefahr, am Verderben. Das ist doch absurd, wird man sagen. Man lese aber Edgar Poe nach, der gern die Macht zeigt, die das Absurde über den Menschen hat, und wie sie ihn stößt, eben das zu tun, was die Vernunft ihn vermeiden heißt. Wer sich über einen Abgrund neigt, den zieht es herab. Die Heiligen, welche die Sünde erkennen, werden von ihren Lockungen am heftigsten heimgesucht. Wie sollen wir uns das erklären? Wie sollen wir es uns überhaupt erklären, wenn unser Gefühl begehrt, was unsere Vernunft uns versagt? Wir meinen dann wohl (einen Ausdruck von Barrès anzuwenden), es seien die Toten in uns, die mächtiger sind als wir selbst. Es ist irgend ein fürchterlicher Urgroßvater in mir, der immer noch nicht sterben will und dessen ich mich nicht erwehren kann. Der regt mein Blut auf und reißt mich zu Taten hin, denen meine Vernunft längst entwachsen ist. Daher alle die Gespenstergeschichten von Familien, in welchen eine grauenhafte Tat, einmal verübt, so blutig auf allen Nachkommen liegt, daß sie immer wieder wiederholt wird; man erinnere sich etwa der »Elixiere des Teufels«. Wir lachen aufgeklärt darüber, aber wer ist unter uns, der nicht am hellen Tage schon mit solchen Gespenstern gerungen hätte? Und schließlich geschieht mit jenem Pater Medardus auch nur genau dasselbe, wie mit dem Coupeau in »L’Assommoir«. Von hier ist es nun gar nicht mehr weit und wir fühlen jenen verruchten Urgroßvater so stark in uns, daß wir uns einbilden, wir selbst hätten damals seine Tat verübt: wir hätten schon einmal in einer anderen Zeit in anderer Gestalt gelebt. Und vielleicht bilden wir uns das nicht bloß ein. Es gibt Menschen, die darauf schwören. Aber freilich, wir raffen uns auf, wir fühlen, daß wir uns dem nicht hingeben dürfen, ohne über die Grenzen zu geraten. Wir spielen nur manchmal damit ein wenig. Wir schließen die Augen und dämmern ein. Und dann erinnern wir uns. Aber plötzlich tönen die Glocken wieder, die Frau mit dem Dolche erwacht, Paola ist wieder zur Pauline geworden, es war nur ein Traum. Aber freilich: Was ist Wahrheit, was ist Traum?
Hermann Bahr.