Hermann Bahr: Erotisch, 22. 6. 1901

Erotisch.

Neulich hat man wieder überall lesen können, es sei schade, daß wir, die »jungen Wiener«, wie man uns noch immer nennt, vom Erotischen nicht loskommen können oder wollen. Es war anläßlich der »Frau Bertha Garlan«, des neuen Romans von Schnitzler, der ja hier schon kurz angezeigt worden ist. Schnitzler hat sich zuerst unter uns zu einer gewissen Ruhe und Reife durchgewunden, und das sichere Verhältniß seiner Mittel zu seinen Absichten, sein Ernst und wohl auch die manchmal fast eher wissenschaftliche als künstlerische Deutlichkeit seiner Darstellung für den Verstand sichern ihm den Beifall auch solcher Leser, die sich unseren Wirkungen sonst zu entziehen wissen. Man hat denn auch jenem Buche die guten Eigenschaften des Autors, den gelassenen Vortrag, die strenge Anordnung, die feine Ausführung, die kluge Eintheilung und den besonnenen Geschmack, gern zugestanden, aber sich dann doch wieder, weniger gegen ihn besonders als gegen uns Alle, mit einiger Verwunderung beklagt, wie seltsam es sei, daß es für uns, die wir nun doch auch schon allmälig ausgebraust haben könnten, noch immer auf der ganzen Welt nichts als die Liebe und die Beziehung des Mannes zum Weibe zu geben scheine. Man nimmt, indem man uns dies vorhält, eine böse Miene an, weist auf die Zustände unseres Vaterlandes, den Haß der Nationen, das Ringen der Classen hin, die wir in unserem Dampf und Dunst verliebter Regungen gar nicht zu gewahren scheinen, und ermahnt uns, väterlich oder höhnisch, je nach dem Wesen und der Bildung des Warners, doch endlich gescheit zu werden und uns auf den Ernst des Lebens zu besinnen. Das Publicum, das es liest und hört, muß rein denken, daß wir nur den ganzen Tag auf Abenteuer laufen, und wundert sich wohl, was für ein Schlag von Menschen das sein mag, dem die ganze Welt nur ein verbuhltes Spiel ist. Es ist an der Zeit, daß wir uns einmal rechtfertigen oder doch entschuldigen.
Zunächst: Wir haben das Erotische nicht erfunden, und wir haben es nicht in den Roman gebracht. Man thut ja wirklich, als sei der vorher ganz unschuldige Roman erst durch uns ins Sinnliche entartet. Nun, der moderne Roman tritt zuerst in Frankreich im siebzehnten Jahrhundert auf, und wir haben aus jener Zeit über sein Wesen ein sehr gelehrtes Buch von Daniel Huet, Cistercienser, Bischof von Soissons, Mitglied der Académie, der neben allerhand theologischen und philosophischen Schriften und Dissertationen zur Lehre des Cartesius selbst einen Roman: »Diane de Castro«, und eben jenen Tractat über den Roman: »Sur l’origine des romans« (1670), verfaßt hat. Darin heißt es bündig: »L’amour doit estre le principal sujet du Roman« – der Hauptgegenstand des Romans ist die Liebe. Wem aber vielleicht jene Zeit verdächtig ist, der mag, ohne sich bei der Lyrik der Renaissance oder unserer Minnesänger aufzuhalten, weil man ja dem Gedichte seine leidenschaftlichen Neigungen verzeiht und nur, wie es scheint, gerade vom Roman eine ernstere Haltung verlangt, gleich zur Antike gehen. Er findet bei Ovid den Vers:
sogar die Tragödie, die doch jede andere Gattung an gravitas, Ernst, Bedeutung und Charakter übertreffe, habe es doch immer mit der Liebe zu thun. Ovid fügt dann einen Katalog galanter Abenteuer an, die durch Tragödien berühmt geworden sind, und ruft aus: »Mir würde die Zeit fehlen, alle tragicos ignes zu schildern, und mein ganzes Buch würde nicht hinreichen, auch nur ihre Namen alle aufzuzählen.« Wenn nun also selbst das Drama, die heilige Feier des Dionysos, die »große Angelegenheit für die ganze festliche Bürgerschaft«, wie Burckhard gesagt hat, seit Euripides allmälig ganz im Erotischen aufgegangen war, so dürfen wir uns nicht wundern, es gar auf den Seitenwegen der Dichtung immer mächtiger zu finden. Ja, der Roman, den die Griechen in der großen Zeit nicht gekannt haben, ist bei ihnen überhaupt ausdrücklich nur zur Darstellung des Erotischen entstanden. Wir haben über seine Anfänge und seine Entwicklung ein vortreffliches Buch von Erwin Rhode, dem Autor der »Psyche«1, die neben Burckhard’s »Griechischer Cultur« und Nietzsche’s »Ansichten des dionysischen Cult« wohl das Tiefste enthält, was noch über das griechische Wesen gesagt worden ist. In diesem »griechischen Roman«2 wird nun gezeigt, wie der Roman eigentlich von gelehrten Arbeiten abstammt, nämlich von den Sammlungen erotischer Legenden, in welchen sich die Historiker gefielen. »Zwar die sogenannten Logographen scheinen, trotz ihres Interesses an verborgenen Stamm- und Ortssagen, solche Liebessagen nicht sonderlich beachtet zu haben, so wenig wie Herodot bei all seiner Aufmerksamkeit auf seltsame und charaktervolle Volksüberlieferungen. Einen merkwürdigen Uebergang zu den eigentlich gelehrten Historikern bildet auch hier Ktesias, der in der wirkungsvoll und mit voller Absicht auf eine ergreifende und rührende Wirkung vorgetragenen romantischen Liebesgeschichte des Meders Stryangäus und der Sakerkönigin Zarinäa vielleicht unter den Griechen das früheste Beispiel einer ausführlich und mit bewußter Kunst prosaisch-poetischer Darstellung erzählten Liebesnovelle hinstellte. Ohne Zweifel lenkte dann die glänzende Behandlung einzelner erotischer Volkssagen auf der athenischen Bühne die lebhafte Aufmerksamkeit der Sammler auf den hier noch zu hebenden Schatz volksthümlicher Poesie, umso mehr, da die in eigener Productionskraft allmälig ermattete Zeit in einem halb ästhetischen, halb culturhistorischen Interesse sich der Betrachtung alterthümlicher und kindlicher Zustände und Vorstellungen in der Verborgenheit des eigenen und fremden Volkslebens überall mit Eifer zuwendete. Bei solchen Nachforschungen entdeckte man nun auch jene heimlich blühenden Blumen einer bis dahin von der künstlich ausbildenden Dichtung wenig berührten Fülle schöner Liebeslegenden, von deren Reichthum uns nun plötzlich von allen Seiten zuströmende Beiträge überzeugen.« In diese habe man nun hineingegriffen, und indem man das »Grundthema: die Schicksale eines Liebespaares« mit der Lust an abenteuerlichen und ungewöhnlichen Schilderungen verband, sei eben die neue Gattung des Romans erst entstanden. »Zu irgend einer Zeit floß das erotische Element hinüber in die ethnographisch-philosophische Idylle: aus der Verschmelzung dieser disparaten Bestandtheile entstand der griechische Roman. In dieser Verschmelzung gab die prosaische, ethnographische Erzählung gewissermaßen den derberen, materiellen Körper her, in welchen die Erotik, aus ihrer poetischen Höhe herniedersteigend, als belebende Seele eintrat, dem für sich allein Unbeweglichen Bewegung und Empfindung mittheilend Soweit sich überhaupt von einer inneren Entwicklung und Ausbildung der Kunstform des griechischen Romans reden läßt, zeigt sich eine solche in dem wechselnden Verhältniß, in welches sich, wetteifernd um die Oberherrschaft, seine beiden Grundbestandtheile zu einander stellen. Anfänglich überwiegt ganz unzweifelhaft das, aus der Reisefabulistik übernommene, rein stoffliche Element (Antonius Diogenes). Es tritt aber bald mit der ihm beigestellten Erotik in einen engeren, durch die rhetorische Darstellung vermittelten Bund (Jamblichus); es muß sich, bei Heliodor, gefallen lassen, zur Illustrirung eines tiefer liegenden Sinnes zu dienen; es wird, bei Xenophon von Ephesus, seiner selbständigen Bedeutung ganz entkleidet, um einzig der erotischen Erzählung zum belebten Hintergrunde zu dienen; es wird endlich, in dem Mosaik rhetorischer und polyhistorischer Studien, aus welchem Achilles Tatius seinen Roman zusammensetzt, so gut wie das erotische Element und das Allerlei der trödelhaften Kenntnisse des Autors zum bloßen Stoff seiner geschmacklosen stylistischen Kunststücke herabgesetzt.«
Also: die Gattung des Romans entsteht überhaupt erst durch die Verbindung zweier Elemente, des Erotischen mit einer »abenteuerlichen Reisepoesie«. Der Roman entsteht, um einen besonderen Fall der Liebe zu zeigen, aber nicht für sich allein, abgelöst von der Welt, wie es die erotische Legende gethan, sondern in möglichst starken Beziehungen auf das seltsame und bunte Treiben der Menschen. Die Darstellung einer erotischen Begebenheit in der Breite der sinnlichen Welt macht das Wesen des griechischen Romans aus. Und dabei ist es eigentlich immer geblieben; nur daß die Autoren später ihr Paar nicht erst in fremde Länder reisen lassen, sondern im eigenen das Fremde und Seltsame zu finden wissen, das sie brauchen, um die Weite des Lebens auszudrücken, von welcher sich der besondere Fall abheben soll. Ein Liebesfall und die weite Welt – das sind die zwei Elemente aller Romane, die wir schließlich im »Wilhelm Meister« und in den »Wahlverwandtschaften« wie in der »Manon« und der »Madame Bowary« finden. Die Entwicklung hat nur gesucht, ihre Verbindung, die anfangs, nach Rhode, »eine ganz mechanische von zwei disparaten Theilen« war, allmälig so zu vergeistigen, daß sie eine organische wurde. Diese Forderung, die wir heute stellen, macht den einzigen Unterschied zwischen dem griechischen Roman und dem modernen aus. Das soll nun gewiß nicht heißen, daß es uns verboten wäre, den Roman abzuändern und einmal einen zu versuchen, in welchem eines der beiden Elemente fehlt. Gattungen ändern sich in der Entwicklung, und es wird manchmal gewünscht, der alten Form einen neuen Inhalt zu geben. Aber dann sage man: Wir wollen keine Romane mehr; oder man sage: Wir wollen eine neue Form des Romans, ohne das erotische Element, welches wir so oder so zu ersetzen gedenken. Man schreie aber nicht über Entartung, wenn unsere Autoren sich in ihren Romanen an das Erotische halten, das immer ein Element des Romans gewesen ist. Sie können sich darauf berufen, damit nur durchaus in der guten Tradition zu sein.
Nun mag es ernst denkenden Menschen freilich seltsam vorkommen, wie denn eine eigene Gattung blos zur Darstellung des Erotischen entwickelt und durch einige tausend Jahre gepflegt werden konnte. Sie unterschätzen nämlich wohl die Bedeutung, welche die Fälle der Liebe für den Geist des Menschen haben. Es ist vielleicht kein Zufall, daß es Gelehrte sind, die den griechischen Roman vorbereiten. Es ist vielleicht dieselbe Leidenschaft, das Leben zu erkennen, welche sie zugleich nach den Sitten fremder Länder forschen und auf Erzählungen von der Liebe achten läßt. Es scheint, daß das Erotische ein Mittel ist, sich des Sinnes unseres Daseins zu bemächtigen.
Und ganz ähnlich Byron in der »Verlorenen Liebesmüh«:
Von Dante gar nicht zu reden, dessen ganze ungeheure Anschauung Gottes und der Welt auf dem Erotischen ruht. Worin er sich übrigens mit jedem aufrichtigen Naturforscher unserer Zeit trifft, der, nach dem Urgrunde trachtend, zuletzt in der winzigen Zelle auf das Geheimniß der ewig keimenden Liebe stößt. Es ist schon so: Wo und wie wir immer das Räthsel, in das wir getaucht sind, berühren wollen, die Liebe ist die Form, in der es uns allein erscheint, an der allein wir es ahnen, und wenn wir in allen Ländern, über alle Berge, durch alle Thäler gezogen sind, wisssen wir am Ende nicht mehr, als dem Jüngling die erste Sehnsucht nach dem Mädchen sagt, und die Mutter mit dem Kinde an der Brust bleibt das höchste Symbol, in welchem wir den Sinn des Lebens verehren dürfen.
Hermann Bahr.

  1. 1 Bei J. C. B. Mohr in Freiburg i. B.
  2. 2 Bei Breitkopf und Härtel in Leipzig.