Hermann Bahr: Der Puppenspieler, 13. 12. 1904

Der Puppenspieler.

(Studie in einem Aufzuge von Arthur Schnitzler. Zum ersten Mal aufgeführt im Carl-Theater am 12. Dezember 1904.)

Zwei Freunde treffen sich nach Jahren wieder. Freunde? Nun, wie es im »Einsamen Weg« heißt: »Wir bringen einander die Stichworte so geschickt – es gibt pathetische Leute, die solche Beziehungen Freundschaft nennen.« Sie sind zusammen jung gewesen, und das bleibt einem hängen. Eigentlich ist es nur Assoziation, wie die Psychologen sagen: der »Freund« ruft Erinnerungen aus einer Zeit auf, in der wir uns selbst noch lieber hatten. Denn damals dufteten uns die Rosen stärker, der Wein war heißer und im Winde wälzten wir uns durch das Gras. Daran erinnert uns der Freund, deshalb haben wir ihn gern; Assoziation. (Wie denn »Treue« nur gutes Gedächtnis ist.) Also zwei Freunde. Sie haben sich zehn Jahre nicht gesehen, nun aber, da sie sich zufällig begegnen, sind sie gerührt. Wenigstens der eine, Herr Eduard Jagisch, der in der Oper Oboe spielt. Wir merken bald, daß der Dichter in ihm den schlichten Mann gezeichnet hat. Er ist verheiratet, er hat ein Kind, er scheint gefühlvoll, wohnt weit draußen vor der Stadt, fast auf dem Lande, obwohl das »manchmal seine mißlichen Seiten hat«; und – und er wagt es, sich glücklich zu nennen, »vollkommen glücklich, schattenlos glücklich«, da selbst »der Tod nichts mehr Schreckliches hat, wenn man einmal Weib und Kind hat, die einen beweinen werden«. Wir begreifen, daß er mit seinem Behagen den anderen ein bißchen nervös macht. Dieser, Herr Georg Merklin, ist nämlich keineswegs schlicht. Wir merken bald, daß er zu den paar Menschen gehört, denen es weniger darauf ankommt, im Leben etwas zu sein, als zu erfahren, was es denn eigentlich mit dem Leben auf sich hat, und denen ihr Schicksal fast nur wie ein Experiment ist, um daran die Probe auf ihre Gedanken zu machen. Er hat in seiner Jugend gedichtet, man erwartete damals, er würde etwas Großes werden. »Wer sagt dir,« antwortete er dem Freunde, der ihn daran erinnert, »daß ich es nicht geworden bin? Müssen es denn die anderen merken? Wenn du heute deine Oboe verkauftest oder wenn deine Finger und Lippen gelähmt würden, daß du nicht mehr blasen könntest – wärest du ein geringerer Virtuose als zuvor? Oder nimm an, du hättest keine Lust mehr und wirfst sie einfach zum Fenster hinaus, deine Oboe, weil ihr Klang dir nicht genügt – wärst du dann kein Künstler mehr? Oder wärst du es nicht vielmehr erst recht, wenn du es zum Fenster hinuntergeworfen hättest, dein Instrument, das so ohnmächtig ist im Vergleiche zu der göttlichen Musik in deinem Hirn? . . . Nun, ich habe sie zum Fenster hinuntergeworfen, meine Oboe. Die Dummköpfe haben ausgeschrien: Es fällt ihm nichts ein! Ich lasse sie schreien. Dem wahren Künstler kann nie etwas einfallen, denn er hat alles in sich – er hat die innere Fülle. Das ist es, darauf kommt es an.« Man denkt an Ulrik Brendel, von dem es wörtlich ebenso heißt, daß »die Welt früher einmal etwas Großes von ihm erwartete«, und aus dem dann auch nur ein spöttischer Vagabund geworden ist, aber immer noch stolz auf seine Werke, die kein Mensch kennt, weil sie gar nicht geschrieben sind, sondern nur von ihm allein in Gedanken und Gesichten genossen, und den Rosmer so beneidet, weil er »wenigstens den Mut hat, das Leben nach seinem eigenen Kopfe zu leben«. Freilich um den Preis, verschollen zu sein. Aber was liegt daran? Merklin sagt: »Ich versichere dir, es tut gar nicht weh, verschollen zu sein. Und ich glaube nicht, daß Menschen meiner Art überhaupt etwas Besseres zustoßen kann.« Denn Menschen von seiner Art gelingt es nicht mehr, sich vom Leben düpieren zu lassen, und hat man dies einmal verlernt, was bleibt einem noch? »Ruhm? – Zehn Jahre – tausend Jahre – zehntausend? sag’ mir, in welchem Jahre die Unsterblichkeit anfängt und ich will um meinen Ruhm besorgt sein. – Reichtum? – Zehn Gulden – tausend – eine Million? – Sag’ mir, um wie viel die Welt zu kaufen ist, und ich will mich um Reichtum bemühen. Vorläufig ist mir der Unterschied zwischen Armut und Reichtum, zwischen Dunkelheit und Ruhm zu gering, als daß es sich mir lohnte, einen Finger darum zu rühren. Laß mich spazieren gehen, Freund, und mit Menschen spielen. Das ist das einzige, was eines Menschen meiner Art würdig ist.« Er sagt hier wieder: Menschen meiner Art, und steckt sich von den anderen ab, um nur nicht im Haufen zu sein, wie es immer jene drängt, die an einem tiefen Stolze leiden, die sich zu gut sind, um sich mit halben Erfüllungen abzufinden, die lieber verzichten, als sich zu bescheiden. Alles oder nichts, die Losung Brands. Kann ich das Leben nicht zwingen, mir das zu werden, worauf mein inneres Wesen steht, so will ich auch seine Gnaden nicht und danke für ein Glück, das den Hammer einer unerbittlichen Forderung und des großen Mißtrauens nicht verträgt. Dann lieber in der Ecke stehen, spöttisch zuschauen und tändelnd spielen, mit dem Leben und mit den Menschen spielen, wie mit Puppen, was wahrhaftig, an Lebendigen geübt, ein edleres Vergnügen ist, als »Luftgestalten im poetischen Tanze herumwirbeln zu lassen.« Als solcher »Puppenspieler« hat sich Merklin von je gern vergnügt. Auch einst, vor zehn Jahren, an eben diesem Herrn Jagisch, der jetzt so glücklich ist. Damals war er das gar nicht, denn er litt, wie solche schlichte Menschen in der Jugend oft, an Mißtrauen vor sich selbst. Wie einen Größenwahn, gibt es nämlich, vielleicht viel öfter als diesen, auch einen Kleinheitswahn: »Mir geht halt nichts gut aus, mich hat halt niemand lieb!« Davon ihn zu heilen, sich aber wieder ein Exempel zu machen, daß in unserem Leben doch alles nur aus Illusion gewoben ist, stiftet Merklin ein junges Mädchen an, in Jagisch verliebt zu tun, wozu es, selbst in Merklin verliebt, sich bereden läßt. Und nun, nach zehn Jahren, sagt er es ihm und weidet sich daran: »Ich vermute, daß dieser Abend bedeutungsvoller für dich war, als du ahnst. Ich glaube, daß du an diesem Abende den Lebensmut in dich getrunken hast, von dem du auch heute noch erfüllt bist. Denn damals, gesteh’ es, hast du zum ersten Mal empfunden, daß auch du im stande bist, Glück zu geben, Glück zu empfangen . . . Wäre jene Stunde nicht gewesen, du wärst wohl dein Lebtag der verschüchterte, ängstliche Bursche geblieben, als den ich dich kannte. Vielleicht hättest du nicht einmal den Mut gefunden, um ein Weib zu werben . . . Und wie kam dies alles? Wodurch war diese außerordentliche Veränderung deines Wesens hervorgerufen? Indem du glaubtest, das schöne Mädchen, das dich damals doch zum ersten Mal sah, hätte sich auf den ersten Blick in dich verliebt . . . Du hattest Ursache, es zu glauben; aber du hast dich geirrt . . . Das Ganze war ein tiefsinniger Spaß, den ich ausgedacht hatte . . . Es war eine abgekartete Sache. Die Kleine, die so zärtlich mit dir war, tat einfach, was ich wollte. Ihr war’t die Puppen in meiner Hand, ich lenkte die Drähte. Es war abgemacht, daß sie sich in dich verliebt stellen sollte. Denn du hast mir immer leid getan, Eduard. Ich wollte in dir die Illusion eines Glückes erwecken, damit dich das wahre Glück bereit fände, wenn es einmal erschiene. Und so hab’ ich – wie es Leuten meiner Art wohl gegeben sein mag – vielleicht noch tiefer gewirkt, als ich wollte. Ich habe dich zu einem anderen Menschen gemacht.« Der andere hört zu und lacht nur still vor sich hin. Und dann kommt es heraus: daß er das alles schon weiß. Längst. Das Mädchen selbst hat ihm gestanden, daß es zuerst nur ein Spiel war. Später, als es kein Spiel mehr war. Denn später ist sie ihm dann wirklich gut geworden und dann ist sie seine Frau geworden und jetzt ist schon ein großmächtiger Bub da. Und so verdankt er dem Puppenspieler eigentlich sein ganzes Glück. Aber dem Puppenspieler kommt es doch seltsam vor. Besonders der Bub kommt ihm seltsam vor, dieser wirkliche, unleugbare, leibhafte Bub, aus einer Illusion geboren. »Wer weiß, wozu dieser kleine Junge einmal berufen ist. Und wenn man zugleich bedenkt, daß er nie geboren wäre, wenn ich nicht an jenem Abend den Einfall gehabt hätte . . . Ihr müßt es ihm erzählen, wenn er einmal groß genug ist, um es zu verstehen . . . Ein Kind meiner Laune – wahrhaftig.« Und er geht. Die beiden aber binden dem Buben die Serviette um und rücken seinen Stuhl an den Tisch und es wird gegessen. Und wir merken, oder es kommt uns wenigstens vor, daß der Dichter sagen will: Der schlichte Mann hat recht, nicht die »Menschen meiner Art«, sondern, die sich vom Leben foppen lassen.
Womit wir denn wieder bei Grillparzers und Stifters altösterreichischer Weisheit der Beschwichtigung und Entsagung wären:
Beiseite leben. Still sein. Sich nicht vermessen, um sich nicht zu verlieren. Umgekehrt wie Brand: nicht »alles oder nichts«, sondern dazwischen. Nicht hochmütig auf die Wahrheit pochen, die, wenn sie extrem wird, über unsere Kraft geht. Die kleinen Lügen nicht verachten, aus denen doch manchmal etwas so Wirkliches wie dieser kleine Bub hier wird, worin vielleicht das eigentliche Wunder und das letzte Geheimnis unseres Lebens liegt. Eine Gesinnung, die sich seit ein paar Jahren bei Schnitzler immer wieder meldet, sogar im »Einsamen Weg«, seiner reifsten, so wunderbar tiefen und reichen Dichtung. Eine Gesinnung, die auf mich – lieber Arthur, sei nicht bös, aber: Bekenntnis gegen Bekenntnis – allmählich unerträglich pensioniert wirkt. Eine Gesinnung, mit der sich auch Hebbel, durch Oesterreich gebrochen, betrogen hat: Kraft oder Schönheit gehört in unser Leben nicht, nimmt, wenn sie sich darin zeigt, eine Schuld auf sich und muß sie tragisch büßen. Ich habe sonst meinem Marxismus mit der Zeit recht bedingen gelernt, aber da muß ich doch sagen: Dies scheint mir wirklich nichts als der geistige Ausdruck einer sinkenden ökonomischen Klasse zu sein, die, da sie sich durch die Entwicklung unaufhaltsam zerrieben fühlt, jetzt einfach aus dem Leben desertieren will. Durch unsere Geburt gehören wir ihr an, deshalb wird sie aus unserer Empfindung niemals auszutilgen sein, die Frage ist nur, ob wir auch geistig uns ihr fügen müssen oder sie geistig vielleicht überwinden dürfen, ob nicht unserer Generation gerade dazu nur die Kunst gegeben wurde, die Kunst und diese namenlose Sehnsucht, um durch sie das Leben selbst, dessen leere Lügen wir nicht mehr ertragen, aus uns umzuformen. Das Leben hält uns geistig nicht, was wir von ihm fordern. An unseren Gedanken gemessen, ist es matt und dumpf. Und darum willst du dich aus ihm stehlen, in den Winkel müßiger Entsagung? Weil es unserem Geiste nicht gemäß ist, das soll mich bestimmen, es mit dem Geiste der Väter zu versuchen? Wenn das Leben mir nicht gemäß ist, wer sagt dir denn, daß ich darum mich ändern muß, statt es? Trauen wir uns so wenig zu? Haben wir uns denn schon mit ihm gemessen? Wir wollen doch erst einmal sehen, wer stärker ist: Wir mit unserer freudigen Sehnsucht nach der neuen Form einer starken, durchaus wahrhaften, leuchtenden Existenz in innerer Freiheit, oder dieses hinfälligen alten Lebens trister Widerstand! In Gedanken still beiseite, sozusagen: auf dem anderen Ufer sein und höchstens manchmal lächelnd herüber schauen, froh, daß man sich noch zur rechten Zeit geflüchtet und davor gesichert hat, das scheint jetzt oft der müde Wunsch deiner Menschen. Aber solche Gedanken, die nur still, mit gesunkenen Händen, beiseite sitzen können, sind mir nichts und mich verlangt nach kühneren, die die Kraft hätten, die Fäuste zu ballen und ins Leben zu strecken und es nicht zu lassen, bis es uns segnen wird. Ich denke jetzt so oft an deinen »Schleier der Beatrice«, an die schaurig große Stimmnng jener letzten Nacht, die den blutigen Borgia schon vor den Toren weiß . . . und morgen wird er kommen und mit ihm kommt der Tod. Sind wir nicht selbst jetzt in solcher Nacht einer Welt, die morgen versinkt? Aber da wollen wir doch die paar letzten Stunden, bevor der Borgia kommt, endlich einmal nicht mehr entsagen, nicht mehr uns fügen, nicht mehr nach dem Gebot der Väter fragen, sondern nachholen, bevor es zu spät ist, und endlich nichts als wir selbst sein und, den Tod im Leibe, endlich, endlich leben! Ich glaube nicht mehr, Arthur, daß Entsagung Reife ist. Ich glaube, sie ist nur innere Schwäche. (Furcht von Menschen, die sich bewahren wollen, weil sie noch nicht wissen, daß dies der Sinn des Lebens ist: sich zu zerstören, damit Höheres lebendig werde.) Ich glaube, daß dies weite Leben, das da draußen winkt, ungeheuer reich an wilder Schönheit und verruchtem Glück ist: es wartet nur auf einen großen Räuber, der es zwingen wird. Ich glaube nicht mehr an die kleinen Tugenden des gelassen zuschauenden Geistes. Ich glaube nur noch an die große Kraft ungestüm verlangender Leidenschaft. Und ich glaube, daß einer von uns, gerade einer von uns, dies machen muß, dies Werk, das die letzte Nacht einer alten Zeit enthalten wird, aus der schon in der Ferne, blutig froh, die Sonne der neuen bricht. Mach’ du’s!
Jarno gab den Puppenspieler in seiner festen und sicheren Art, mir fast ein bißchen zu fest und bestimmt: die Figur hat bei Schnitzler den beinahe musikalischen Reiz einer Radierung, Jarno macht einen Holzschnitt daraus. In den »letzten Masken«, die vorhergingen, wirkte Herr Heine als Rademacher sehr, prachtvoll in dieser Mischung von Grimm, Neid, Haß, Gier, Wut eines ohnmächtigen Menschen, der sich ein ganzes Leben geduckt hat und nun im Tode höhnend aufbäumt. Zum Gilbert in der »Literatur«, die dem Puppenspieler folgte, ist er im Tone zu schwer, zu real besonders neben dem Simplizissimusstil der Frau Retty und des Herrn Treßler, die hier in ihrem Element waren.
Hermann Bahr.