Hermann Bahr: Das weite Land, 15. 10. 1911

»Das weite Land

(Tragikomödie in fünf Akten von Artur Schnitzler. Zum erstenmal aufgeführt im Burgtheater am 14. Oktober 1911.)

Von

Hermann Bahr.

Als Kinder hatten wir ein Buch sehr lieb, worin sich die ganze Welt mit ihren Sehenswürdigkeiten aufgemalt und abgespiegelt fand. Es hieß der Orbis pictus und war irgendein entfernter Abkömmling des berühmten alten Bilderbuchs gleichen Namens, das einst der brave Comenius zu Nutz und Frommen neugierig lernbereiter Jugend ersann, als omnum fundamentalium in mundo rerum et in vita actíonum pictura et nomenclatura, aller vornehmsten Weltdinge und Lebenstaten Bezeichnung und Benennung. Darin ließ sich gut blättern: man saß, während sich draußen der Winter um die Scheiben immer weißer stöbernd zusammenzog, behaglich am knasternden Ofen und reiste dabei durch die Welt. Aehnlich ergeht es mir jetzt, wenn Schnitzler wieder ein neues Stück hat und ich es lesen darf, schön bei mir daheim: ich fahre dann durch die pittoreske Gegend der eleganten Wiener Welt, wohlgemut, daß ich selbst nicht dabei sein muß.
Wenn man Schnitzlers Stücke, Novellen und Romane seit zwanzig Jahren zusammenlegt, ist’s wirklich wie ein Orbis pictus elegantiarum Viennensium, ein Bilderbuch der eleganten Wiener Welt. Oder doch des Teiles der eleganten Wiener Welt, der sich öffentlich bemerkbar macht. Oder, um ganz genau zu sein, der Geldmenschheit, die, seit der Adel bis auf ein paar Exemplare aus der Wiener Gesellschaft verschwunden ist, es übernommen hat, nun die vornehme Welt bei uns vorzustellen. Oder, in Ziffern also, des Wiener Lebens von der fünfzigsten Einkommensteuerstufe aufwärts, aber natürlich samt Zubehör, mit dem ganzen Troß ihrer geistigen Dienerschaft, als Gelehrten, Künstlern, Liebeshändlerinnen und dergleichen Amüseuren, die sich die Geldmenschheit hält, aus keinem anderen Bedürfnis als aus Prahlerei. Freilich hat Schnitzler auch Stücke geschrieben, die nicht in diesem Kreis liegen: den »Grünen Kakadu«, den »Schleier der Beatrice«, den »Einsamen Weg«, mir sein liebstes Werk, und den »Jungen Medardus«. Aber (wie das wohl auch anderen Autoren passiert) diese seine Hauptwerke gehen doch bisher mehr nur so neben seiner Produktion her.
Schnitzler ist seiner ganzen Art nach ein Seelenkenner, Seelenforscher und Seelendeuter. Merkwürdig nun, welches Material er sich dazu nimmt. Merkwürdig, daß er seine große Begabung für Seelen mit Vorliebe jenen Geldmenschen (es gibt auch Geldmenschen ohne jedes Geld) zuwendet, Menschen also, die keine Seele haben, sondern das was bei den anderen Seele genannt wird, durch einen Komplex von Nervositäten ersetzen. Seele nennt man an den anderen irgendein den gesamten Menschen durchdringendes, diesen einen Menschen bestimmendes, ihn konstituierendes Grundverlangen, das, wenn man ihm alles nimmt, Leidenschaften, Begierden, Triebe, ja (wenn dies denkbar wäre) sein Schicksal selbst, dies alles von ihm abzieht und ihn völlig in Ruhe setzt, doch immer noch übrig bleibt, ganz allein sein Glück oder Unglück macht und gleichsam das Spalier ist, woran sich dieser ganze Mensch mit seinem Leben emporrankt. Das haben die Geldmenschen nicht, sie müssen sich derlei von außen holen. Sie haben keine Innerlichkeit, auch im gemeinsten Sinn dieses Worts nicht; es ist innen überhaupt nichts da, nicht einmal schlafend; und wenn sie handeln, so geschieht’s entweder bloß aus unmittelbarer Reaktion auf einen sinnlichen Eindruck, oder es geschieht aus Angst vor der eigenen Leere. Was man ihre Nervosität nennt, sind Explosionen ihrer inneren Leere sozusagen, die der Verstand anzündet, um solche Menschen wieder für eine Zeit über ihren Zustand zu täuschen. Dies hat kein Autor tiefer erkannt als Schnitzler, und es reizt ihn nun offenbar, zu versuchen, ob aus solchen Explosionen von Nichts nicht durch seine ganz außerordentliche Kunstfertigkeit doch etwas wie dramatische Wirkung zu holen sei, wodurch denn Lears Wort, daß aus Nichts nichts werden könne, Lügen gestraft wäre.
Ich habe Schnitzlers vollkommene technische Meisterschaft noch niemals mehr bewundert als an diesem neuen Stück, dem es gelingt, mir drei Stunden lang ein keinen Augenblick nachlassendes Interesse für Menschen abzunötigen, unter denen keiner ist, mit dem ich mich im Leben auch nur fünf Minuten aufhalten würde. Im Leben berührt mich das geringste Zeichen von Empfindung: ein Kind, das weint oder lacht, einer, der hungert oder friert, ein Hund, der zu einer Hündin will. An empfindungslosen Wesen aber kann ich nicht teilnehmen, weil ich nicht wüßte, wodurch ich mich mit ihnen verbinden, wodurch ich mich auf sie beziehen sollte. Geben nun aber gar empfindungslose Wesen Empfindungen vor und ich merke den Betrug, so weiß ich gar nicht, was ich damit anfangen soll. Wer hungert, dem kann ich seinen Hunger stillen; wer mir aber, ohne zu hungern, Diskussionen über seinen Hunger hält, den er nicht hat, macht mich ratlos; der Menschen Sorgen um Empfindungen, die sie nicht haben, kann ich nicht teilen. Schnitzler aber zwingt mich dennoch dazu, durch das Vergnügen, das mir seine Kunst der Darstellung macht; ich kann es etwa mit dem Vergnügen an Entwicklungen der mathematischen Phantasie vergleichen, von denen ich auch nur so viel verstehe, daß dabei große Schwierigkeiten bewältigt werden müssen, was schließlich doch meinen Menschenstolz befriedigt.
Unter den Menschen dieses Stücks, von denen ich den Eindruck habe, daß sie sämtlich keines wirklichen Gefühls fähig, aber eben darum stets auf der Jagd nach einem sind, steht obenan Herr Friedrich Hofreiter, Glühlichterfabrikant im großen Stil, mit Unternehmungen bis nach Amerika hinüber, auch bei Frauen unternehmend, mehr aus schlechter Gewohnheit, wie es scheint, oder weils nun einmal dazu gehört, als aus Sinnlichkeit oder gar aus Leidenschaft. Er weiß, daß seine Frau davon weiß, und er nimmt an, daß sie sich damit abgefunden hat. Da er, wie im Tennis, so gelegentlich auch als Philosoph exzelliert, redet er sich ein, er könnte es ihr nicht verdenken, wenn ihm seine Untreue von ihr vergolten würde. Er hat einen russischen Pianisten zum Freund, oder besser gesagt, er hält sich einen russischen Pianisten als Freund, und mit diesem hat er seine Frau in Verdacht. Der Russe erschießt sich, wodurch jener Verdacht wächst, Herr Hofreiter ist noch immer nicht eifersüchtig, es interessiert ihn nur, als psychologisches Problem, er will wissen, wie das eigentlich war; er will, wie er sich ausdrückt, wenn er auch ein Ehemann ist, ja kein Trottel sein. Seine Frau gesteht, daß der Russe sich getötet hat, weil sie ihn nicht erhört hat; sein letzter Brief beweist es. Wieder ein psychologisches Problem für Herrn Hofreiter: Hat seine Frau rechtgetan, durch ihre Tugend einen Menschen in den Tod zu treiben? Es ist ihm »einfach unheimlich«. Im Grunde nimmt er es ihr eigentlich übel. Was ist Tugend? »Etwas, das doch in Wirklichkeit gar nicht ist – ein Schemen, ein Phantom, ein Nichts, wenigstens einem so furchtbaren Ding gegenüber, einem so irreparablen wie der Tod!« Er kann es nicht verstehen. Gar da ihr der Tote doch sehr gut gefallen hat, da sie fast »ein bissel verliebt« in ihn war und zur ehelichen Treue doch wahrhaftig keinen Anlaß hatte! Es macht ihn ganz nervös. So nervös, daß er jedenfalls für eine Zeit von ihr weg will, und zwar in seiner Nervosität gerade in das Alpenhotel, wohin eben auch die kleine Erna geht, ein vorwitziges junges Mädchen, das er nun auf einmal reizender findet, als er bisher bemerkt hat. Dieses Alpenhotel wird uns nun in Funktion gezeigt, im dritten Akt, der, ein Prachtstück guter Laune, jedem Theaterdirektor wieder einen Seufzer aus dem gepreßten Herzen holen wird, warum denn Schnitzler noch immer nicht endlich ein Lustspiel schreibt. Das Hotel wird von einem Herrn Doktor v. Aigner geführt, der nebenher ein berühmter Bergsteiger, Landtagsabgeordneter und zahlreicher Vater ist, aber freilich auf jeden, der das Original gekannt hat, etwas schattenhaft wirkt, was vielleicht Schnitzlers Absicht war, weil dieser volle Sinnenmensch in ganzer Gegenwart ja die sämtlichen anderen Zerebralwesen des Stückes erdrückt hätte. Wir sind in diesem Akt zweitausend Meter über dem Meer, womit motiviert wird, daß Herr Hofreiter plötzlich an den empfänglichen Busen der naseweisen kleinen Erna sinkt: Höhenrausch! (Ich meine das keineswegs ironisch, sondern Herr Hofreiter besteht eben darin, daß er bloß durch Veränderungen der Blutbewegung allein psychisch bestimmt wird.) Als er im vierten Akt heimkehrt, ist inzwischen seine Frau die Geliebte eines Marinefähnrichs geworden. Man hat nicht den Eindruck, daß ihr Gefühl für diesen Otto stärker ist als einst das für jenen Russen. Keineswegs. Aber da sie damals nein gesagt hat, sagt sie jetzt zur Abwechslung einmal ja, vielleicht um, nachdem sie die Tugend gekostet hat, nun auch einmal das andere kennen zu lernen; wahrscheinlich im Grund aus eben demselben Lebensfürwitz, der ja schließlich auch das Motiv der mehr genäschigen als verliebten Erna ist. Herr Hofreiter entdeckt das, fordert den Fähnrich zum Duell und erschießt ihn. Warum eigentlich? Hat er sich belogen, wenn er sonst so gleichgültig und über das eheliche Vorurteil erhaben schien? Oder weil er doch in irgendeinem letzten Winkel seine Frau noch liebt? Oder bricht das Tier aus ihm hervor? Nein. Sondern er ist einfach schlecht aufgelegt und will sich Luft machen. Er hat eben noch, als er es erfuhr, ganz ruhig darüber gesprochen. Es schmerzt ihn gar nicht, es ärgert ihn nicht einmal. »Im Gegenteil. Es ist mir eher wie eine innere Befriedigung. Ich gehe nicht mehr als Schuldiger in diesem Hause herum. Ich atme wieder auf. Es ist gewissermassen, als hätte sie Sühne getan für den Tod Korsakows, und zwar in einer höchst vernünftigen und schmerzlosen Weise. Sie fängt an, mir wieder menschlich nah zu sein. Wir leben wieder sozusagen – auf demselben Stern.« Nein, er ist zunächst keineswegs verstimmt. Aber da begibt es sich, daß eine Zeitung eine dumme Notiz über ihn bringt, als wäre jener Russe das Opfer eines amerikanischen Duells mit ihm geworden. Das verdrießt ihn, er vermutet den Mann einer Frau, mit der er damals geliebelt hat, hinter der Notiz, will ihn stellen und kommt ihm nicht bei. Das verdrießt ihn noch mehr und so, wie man zu sagen pflegt, schießt ihm das Blut in den Kopf. Der Fähnrich ist nur der Blitzableiter seiner üblen Laune. Seine Frau fragt: »Warum also? Wenn dir an mir noch das geringste läge . . . wenn es Haß wäre . . . Wut . . . Eifersucht . . . Liebe . . . « Er erwidert: »Na ja, von all dem verspür’ ich allerdings verdammt wenig. Aber man will doch nicht der Hopf sein.« Um nicht der Hopf zu sein, fordert er den Fähnrich. Es ist wohl zunächst bloß eine Formalität. Aber als ihm der dann gegenüber steht »mit seinem frechen jungen Blick«, da zielt er und trifft ihn. Er behauptet, weil sonst der ihn erschossen hätte. Doch das wird’s wohl kaum gewesen sein, sondem eher, weil ihn des Fähnrichs »freches kaltes Auge« irritiert hat. Ob er nun wirklich, wie er voraussagt, »nächstens doch zusammenschnappt?« Es sähe ihm ähnlicher, sich jetzt gar noch für eine tragische Gestalt zu halten und das mit Behagen zu genießen.
Korff nimmt den Hofreiter ernster, schwerer, auch sagen wir: deutscher, als er wohl ist, und schmeichelt damit allen Hofreitern im Parkett; aber, rein schauspielerisch genommen, ist er vortrefflich, er ist noch nie zuvor so weit gekommen wie hier im letzten Akt. In einer Episode von zwanzig Sätzen interessiert Heine mehr als alle übrigen zusammen, die sich, in einem unerträglich langsamen Tempo, vor Wichtigtuerei nicht von der Stelle bringen. Daß das Stück auch in diesem monotonen Trauerschritt dennoch stark gewirkt hat, beweist seine große theatralische Schlagkraft.