Arthur Schnitzler: Bemerkungen zum Thema »Kunst und Kritik«, Juni 1923

Bemerkungen zum Thema »Kunst und Kritik«

(Aus dem »Buch der Sprüche und Bedenken«)

von

Arthur Schnitzler

Wenn wir in einem Kunstwerk das Vorhandensein einer Weltanschauung als künstlerischen Vorzug zu empfinden glauben, so kommt diese Wirkung niemals von der Tatsache oder von der Art der Weltanschauung her, die der Autor zum Ausdruck bringt, sondern immer nur von dem Grad des Talentes, den er hierzu aufzuwenden imstande war.

Wie oft geschieht es – und muß nicht immer böse gemeint sein – daß der Kritiker seine eigene fixe Idee in das Werk eines Autors hineinträgt und nichts anderes mehr darin zu sehen vermag als eben diese Idee, von der er selbst monomanisch besessen ist; – während sie dem Autor doch nur ein Element seines Werkes und nicht einmal das wichtigste unter einem Dutzend anderer bedeutet.

Es ist schlechter Geschmack über seine eigenen Figuren gerührt zu sein und ein noch schlechterer sich über sie lustig zu machen. Leider fehlt uns das rechte Wort, das innerhalb des Geistigen eine gewisse mindere Art von Humor so glücklich bezeichnete, als das Wort Sentimentalität ein unreines Verhältnis innerhalb des Gefühlsmäßigen zum Ausdruck bringt. (»Witzelei« käme der Sache noch am nächsten.) In beiden Fällen aber handelt es sich um einen Mangel an Distanz von Seiten des Autors entweder der eigenen Figur oder dem Publikum oder beiden gegenüber.

Dem Kritiker verrät sich ohne weiteres, ob ein Werk, es mag im einzelnen mehr oder minder geglückt sein, aus innerster Notwendigkeit oder ob es aus irgendwelchen äußeren Gründen geschaffen wurde. Doch mit nicht geringerer Unfehlbarkeit weiß es der Künstler, ob das Urteil, das er vom Kritiker erfährt, sei es Zustimmung oder Ablehnung, sachlicher Anteilnahme entstammt oder ob es durch irgendwelche andere Motive getrübt ist.

Die drei Kriterien des Kunstwerks: Einheitlichkeit, Intensität, Kontinuität.

Manchem Urteil gegenüber, das ich gedruckt lese, ergeht es mir so, daß ich vor allem denke: »Wie klug, wie zutreffend, wie gerecht! Jedes Wort möcht ich unterschreiben.« – Und doch habe ich keine rechte Freude dran; denn gleich drangt es mich den Kritiker zu fragen: Hand aufs Herz, mein Freund, hättest du dies auch geschrieben, wenn du für den Autor, dessen Werk du beurteilst, nicht besondere persönliche Sympathie empfändest? Oder, wenn dir das Lob, das du gespendet hast, nicht irgendwelchen moralischen oder (wär es auch auf einem Umweg) sonstigen Gewinn brächte? Oder wenn du diesmal nicht besondere Gelegenheit gehabt hättest, dem eigenes Licht leuchten zu lassen? Ja – frage ich am Ende – hättest du, wenn das Werk zufällig von einem Andern wäre, überhaupt bemerkt, daß cs dein Lob verdient? Und, wenn du es bemerkt hättest, wäre es dir der Mühe wert gewesen, es aufzuzeichnen oder gar in die Zeitung zu setzen?

Was dein Werk in die Zukunft trägt, ist nie das Problem, das du gewählt, nicht der Geist, mit dem es behandelt; – es sind immer nur die Gestalten, die du gebildet und die Atmosphäre, die du um sie herum geschaffen hast.

Die wahre Tragödie steigt zum Himmel auf, wie ein Turm, auf dessen freier Höhe, von Stürmen umbraust, die Leiche des Helden aufgebahrt liegt, – aber auch auf dem Grunde jeder richtigen Komödie, tief verborgen in vermauerten Räumen, ruht ein tragisches Geheimnis – mag auch oft dem Meister selbst, der du Gebäude aufgerichtet, nichts davon ahnen. –

Wenn dem Kritiker ein Werk zur Beurteilung vorliegt, stehen ihm zwei Methoden zur Wahl. Entweder mag er sich auf dies eine Werk beschränken und von den übrigen des Autors absehen; – oder er beziehe in sein Urteil die Gesamterscheinung des Autors ein. Meist aber übt er eine dritte Methode, die ihm in jedem Falle verwehrt sein sollte, – indem er neben dem Werke, das ihm zur Beurteilung unterbreitet ist, einzelne andere nach Wahl oder Laune, in den Kreis seiner Betrachtungen aufnimmt, die Existenz der übrigen, die ihm für seinen Zweck und seine Wirkung im Augenblick eben nicht genehm sind, willkürlich außer acht läßt und sich solchermaßen erlaubt, den Dichter aus eigener Machtvollkommenheit zu fragmentieren.

Mancher dichterische Einfall, der im Lauf der Zeit in unser Unbewußtes sank, den wir also unserer Meinung und dem Sprachgebrauch nach vergessen haben, nimmt weiter an unseren Erlebnissen Teil, zieht in geheimnisvoller Weise Nahrung aus ihnen und entwickelt sich so, ohne unser Dazutun, ohne unser Wissen weiter fort. Und eines Tages mag es geschehen, daß er, wundersam verändert, aus den Tiefen unserer Seele wieder emporsteigt und uns zu mahnen scheint: Nun bin ich allmählich zu dem herangereift, wozu ich von Anbeginn bestimmt war: jetzt erst bin ich deiner, und du meiner wert; – laß uns Beide unser Schicksal erfüllen, – schaffe dein Werk. –