Aufzeichnung von Hermann Bahr, 29. 11. 1903

29. Schöner kalter Morgen.
Lese, jene von Mongré citierte Stelle suchend, Nietzsche.
In XI S. 127, wo er gegen Wagner spricht, eine Stelle die auf die Elektra Hugos paßt:
»Diese wilden Thiere mit Anwandlungen eines sublimierten Zart- und Tiefsinns haben nichts mit uns zu tun. Dagegen zum Beispiel Philoktet.«43 Die Definition find ich vortrefflich. Das Unterstrichne falsch. Ich halte es vielmehr für das Wahre unserer Generation, daß in ihr die mittlere Cultur ausgewischt ist, sodaß das früher durch sie verborgene Thierische oder Primitve nun wieder sehr deutlich wird, über welchem das Sublime schwebt, nemlich jene, einstweilen freilich nur erst zu ahnende, manchmal blitzartig hereinscheinende, höhere Cultur, welche die mittlere mit der Zeit ablösen und ersetzen soll.
Klimt gehört auch hieher.
Nachmittag nach Rodaun zum Hugo. Gespräch über »Elektra« und »Gerettetes Venedig«, ich ziehe jene vor, weil hier ausreicht, was Hugo bisher allein vollkommen kann und hat: der Ausdruck extremer Erregungen, während er, um Ruhe darzustellen immer irgend einen fremden Nachton hat.
Hugo erzält von einem Briefe Peter Altenbergs, indem er die Elektra (übrigens ganz unartistisch, vielmehr um ihres Gerechtigkeitshungers willen) feiert, Goldmann für sein albernes Feuilleton beschimpft und fortfährt: »Ein Jude kann dies eben niemals verstehen!«!!! Ich komme doch über die furchtbare innere Verlogenheit solcher Menschen nicht hinweg, nicht etwa moralisch verletzt, sondern psychologisch befremdet, weil ich mir durchaus nicht vorstellen kann, was in solchen Gehirnen Vorgehen mag.
Hugo erwähnt den Plan, im Sommer etwas »ganz Stilles und ganz Undramatisches« zu machen: Leda mit dem Schwan.
1Ich erzäle die Geschichte vom Herrn Fabichler, dem Linzer Dichter, der, von meiner Schwester protegiert, eigens zu mir fuhr, mir seinen Roman »Künstlerinnengunst« zu bringen, die halbe Stunde bei mir aber keineswegs (obwol ich es ihm fast suggerierte) versuchte, mir zu sagen, was er beim Schaffen sucht, was er will u. wonach er ringt, was ihm vorschwebt, sondern mir immerfort nur erzälte, wie schwer es heute sei, sich einen Namen zu machen, und wie wichtig, ja entscheidend die Protektion sei. Er hat zuerst ein Stück geschrieben, weil er, als Deutschnationaler, alter Burschenschafter, einen Weg zum Müller-Guttenbrunn zu haben geglaubt habe, der aber sein Stück gar nicht gelesen, sondern ihn an den Regisseur Pohler gewiesen, welcher ihn sogleich geduzt, aber nichts für ihn getan, sondern ihn zur Körner geschickt, die ihn auch wieder nur genarrt, was er nun alles, in der Hoffnung, daß es doch das Publicum sehr interessieren müsse, in seinem Roman dargestellt. Nachdem ich diesen gelesen, schreibe ich an ihn, ich fände sein Werk leider nicht so gut, daß ich darüber etwas zu sagen hätte. Nun schreibt er wieder an meine Schwester, (gar nicht etwa beleidigt oder gekränkt), ich möchte doch also anonym eine günstige Recension erscheinen lassen; und legt einen Brief der Frau Hinsenkamp bei, der Frau des Bürgermeisters von Urfahr, in welchem diese für die Zusendung seines Werkes dankt, es lobt und gleich (dies war offenbar ihr erster Gedanke) im dritten Satze ausruft: »Wie mögen die Literaturgrößen in Wien vor diesem Werke erschrecken und erzittern!« Und nun spreche ich mit Hugo davon, wie wir, er, ich, Schnitzler, Hauptmann, alle, geradezu ausspähen nach Talent, wie wir darunter leiden, daß keine Jugend da ist, daß wir so wenige sind, daß wir allein das Gefühl haben, nicht auszureichen für alles, das notwendig ist, und wie wir aufatmen würden, wenn irgendwo ein neues Talent zu sehen wäre.
Von hier geht das Gespräch wieder auf mein Hauptthema, worin ich das Zeichen sehe, daß es mit Ostreich aus ist: nemlich daß in kräftigen Nationen jeder den anderen zu brauchen fühlt, auch den Gegner, mit dem er sich doch am selben Werke arbeiten weiß und den er, um seiner selbst willen, sich nur recht stark und entschieden wünscht, weil, je schöner jener seine Kräfte spannt, je mächtiger er eben daran die seinen, die eigenen entfalten kann, wie man ein Assaut nur mit einem ebenbürtigen Fechter schlagen kann, vor einem wüsten Naturalisten aber unfähig ist, seine Kunst zu zeigen.
Ich erzäle dann von dem Brief, den der junge Herr von Sonnenthal (Beamter der Elektrizitätsgesellschaft Siemens, mit einer Tochter des Direktors Herz verheiratet, etwa gegen vierzig Jahre) an Fritz Wärndorfer in Erwiderung einer Einladung seiner kleinen Tochter Everl zu einem Marionettentheater für die Kinder Wärndorfers geschrieben hat, diese ablehnend, um sein Kind vor dem »Gifte« der sogenannten »Moderne« zu bewahren, in welcher er nur Perversität, Hysterie und Speculation einiger Betrüger auf die Hysterie und Perversität sieht. Characteristisch ist darin, wie er Wärndorfer an die alte Zeit erinnert, welcher dieser sich wol jetzt schäme, als er noch für Bellini schwärmte und in der Albertina vor einer Handzeichnung Rafaels in Entzücken geraten konnte – als ob notwendig ein Verständis moderner Werke und Gefühl für sie mit Verachtung für jede alte Kunst verbunden sein müßte!
Und ich, wieder von Östreichs Elend sprechend, zeige daran, wie wir für einander völlig zu Barbaren geworden sind, die einer des anderen Sprache nicht mehr verstehen. Es felt jede Verbindung zwischen den einzelnen Gruppen der Bildung, welcher Zusammenhang allein es doch ist, der Cultur ausmacht – wir haben nur extreme Bildung einiger weniger und extreme Verkommenheit.
Fahre in der Dampftramway mit Gustav Schwarzkopf zurück, von der kleinen Martha Karlweis sprechend, die zwei merkwürdig begabte Novellen geschrieben hat, dann über die Odilon, die vorgestern in Innsbruck einen Gehirnschlag erlitten hat, dabei über die Gemeinheit der Presse, die, ohne den Verlauf der Krankheit abzuwarten, gleich weiß, ihre künstlerische Carrière sei vollendet.