Stefan Zweig an Hermann Bahr, [9. 9. 1914?]

Sehr verehrter lieber Herr Bahr,

vorgestern sprach ich Artur Schnitzler und regte Ihren Wunsch an: auch er ist meiner Meinung, dass es jetzt nicht opportun sei, solange nichts über die Fakten bekannt ist, zu intervenieren, wenigstens direct. Was im Unterrichtsministerium, dem ich durch Thadeusz Rittner die Beachtung des Falles empfahl, geschehen ist, weiss ich noch nicht: ich berichte Ihnen sofort sobald ich Antwort habe. Gestern sprach ich auch Kvapil, er als Slave kann natürlich am wenigsten tun. Die Situation ist eben sehr erschwert durch die Tatsachen dass V.s Bruder in hoher montenegrinischer Staatsstellung ist, er selbst ein Gedicht verfasst und öffentlich recitiert hat, das den Serben den Weg zum Meere wies – ich muss sagen, dass die Regierung jetzt in einem so lebensgefährlichen Augenblick solchen suspecten Anzeichen gegenüber vorsichtig sein muss. Meine Meinung ist da unerschütterlich, dass so wie im Frieden für einen Gerechten ganz Sodom verschont werden solle, im Kriege für einen politischen Sodomiter fünfzig Unschuldige verhaftet werden mögen: was Österreich durch Spionage in seinen militärischen Actionen Erschwerungen und Gefahren erlitt ist unabsehbar: jeder, der aus den russischen Kämpfen zurückkehrt meldet es mit Grauen. Sie wissen vielleicht von mir, lieber verehrter Hermann Bahr, dass Stärke – leider! – nicht meines Wesens Wurzel ist, aber gegen eine solche Gefahr muss man grausam sein und wir sind es vielleicht noch immer nicht genug. Ich weiss und weiss es jetzt mehr als je – wie viel könnte ich Ihnen erzählen! – was in diesen Grenzgebieten versäumt wurde, aber jetzt hilft kein Anklagen vergangener Dinge, keine Curen mit sanften Compressen, jetzt muss, solang der Krieg dauert, mit dem heissen Eisen alles Unreine ausgebrannt werden. Ihre Action und die ihr entsprungenen Bemühungen haben sicher genügt, das Leben Vs sicher zu stellen, die Tatsache ob er in Ragusa oder Arad sitzt ist ja geringer zu werten. Immerhin bemühe ich mich weiter, Hofmanstal bin ich allerdings zu ferne und erhoffe mir auch nichts von seinem Willen zur Intervention: ich glaube V. wird sein kleines Leid jetzt noch die Wochen oder Monate tragen müssen, wo das Millionenleid ganz Europas dauert. Ich bleibe lebhaft bemüht ihm Hilfe zu schaffen: misslingt’s, so fällt sein Geschick eben zurück in die Fülle des Unabwendbaren, dessen Flut jetzt ganz Österreich, die ganze Welt überströmt, jede Schwelle netzt und bis zu den letzten Stockwerken emporsteigt. Treulichst
Ihr innig ergebener
StefanZweig