Olga an Arthur Schnitzler, 21. 11. 1921

Montag früh, 21. Nov. 21.
Mein lieber Arthur, eben kommt Dein Brief,– wüsstest Du nur, wie sehr ich mich mit ihm freu, – wie immer, wenn Du einmal nicht hart und vorwurfsvoll mit mir bist. Möchtest Du das nicht, nach Möglichkeit, fortsetzen? es wäre so lieb von Dir, und ich weiss gar nicht, was ich alles drum gäbe,um mit Dir, zu Dir, auf eine vernünftige menschliche Art reden zu können.
Du weisst ja, dass ich immer sehr empfindlich war,– und es jetzt wahrscheinlich besonders bin. Das Vergangene lassen wir doch lieber ruhen, – wenn Du mich so unsühnbar und unbegreiflich »schuldig« findest, – und das tust Du ja,– so zahle ich doch wahrhaftig dafür einen hohen Preis,– einen höhern, wie jede andere Frau,– von allen, die ich kenne, – und damit, mein ich, könntest Du Dir’s genügen lassen.
Erst gestern hat mir eine sehr liebe, sehr warme, sehr stark empfindende Frau, (Fritzi Stoessler, eine Freundin der Alma) ihre Geschichte erzält, und ich sehe immer wieder, dass es doch in fast jedem andern Fall beim seelischen Bezalen geblieben ist, während ich, wahrscheinlich weil ich eine der unfrivolsten, unverlogensten Frauen bin, den vollen Einsatz eines Lebens einbüssen musste. Aber ich habe es auf mich genommen, und damit soll’s auch genug sein,– glaubst Du nicht?
Zu erzälen ist von mir sehr wenig. Ich lebe hier sehr still, sehr einsam, und möchte bis Weihnachten hier bleiben, wo ich für wenige Tage zu den Kindern nach Wien fahren will. Was ich von da ab tue, ist mir selbst noch unklar. Augenblicklich bin ich in zahnärztlicher Behandlung, lasse mir aber nur das Notwendigste machen,– ich bräuchte eigentlich einen sehr tüchtigen Zahnarzt für eine bestimmte Sache,– und warte damit lieber auf Wien.
Mittwoch Vorm. holt mich Bahr wieder zu einem längern Spaziergang,– er ist von woltuender geistiger Bewegtheit, heiter und ruhig,– und mir gegenüber besonders lieb, was mich sehr freut. Mittwoch Nachm. will ich dann für 3 Tage nach München, um meine Sachen von Frl. Schwarz wegzuholen, ich mag nicht länger das Zimmer dort bezalen. Aus München höre ich ja von der plötzlichen Teuerung ziemlich unangenehme Dinge,– die mit ein Anlass ist, dass ich hier bleibe.
Dass mein Häschen lernt, ist mir sehr recht, – sowas schreibt sie mir aber nicht,– ihre Briefe enthalten meist unpassende Witze,– nach dieser Richtung ist sie, offenbar durch die Mozart-Briefe, sehr bestärkt worden,– und der Verkehr mit Anningers tut das seine – aber ihre Briefe sind goldig – frech, lieb, unbefangen, und sehr zärtlich. Wie geht’s ihr denn mit der Schule?
Hauptmann hat, durch die Feierlichkeit, mit der er seinen Ruhm agiert, und durch die Flachheiten, die er in der Universitätsrede vorgebracht hat, auf mich keinen besonders erhebenden Eindruck gemacht. Persönlich war er hoffentlich besser.
Ich hatte in letzter Zeit oft Anlass, über die Menschen nachzudenken, denen eine Legende anhaftet, – die Legende und sie selbst,– welecher Gegensatz zuweilen! welche Getroffenheit – symbolischer Art in manchen Punkten,– die öffentliche Meinung ist ein ganzes Lachkabinett voll von Zerrspiegeln.
Von Hajeks 60sten Geburtstag lese ich in der Zeitung, – und ich möchte ihm gerne gratulieren, nicht aus Form, sondern weil ich ihn sehr schätze. Nur tu ich es nicht, weil ich ja nicht weiss, wie es aufgenommen wird,– wenn Du es für gut befindest, so sag ihm und Deiner Schwester alles Herzliche von mir.
Frau Dr Lichtenstern hab ich vor einiger Zeit nach ihrer Gesundheit gefragt, denn als sie mich in Wien so dringend zu sich lud, war sie ja zu Bett,– hab aber keine Antwort bekommen. Ein kleiner Formfehler, der mich veranlassen wird, auf jede Verbindung mit dieser charmanten Frau ferner zu verzichten.– Willst Du, bitte, davon keine Erwähnung tun,– denn daran kann jetzt nichts mehr geändert werden. Mit mir darf man jetzt nicht schlampert sein.
Von der Alma hab ich, aus Weimar und Berlin, wieder die wunderbarsten, wärmsten Briefe bekommen,– die Existenz dieser Frau ist wirklich eine Herzensfreude,– ein menschliches, unverkünsteltes, grosses Herz.
Vom »Weiten Land« in Berlin wusst ich nichts, – alles andere hab ich gelesen. Wie ist denn die Besetzung des »Lebendigen Stunden«, ausser Onno? Das Reigen-Urteil hat mich, schon als allgemeines Symptom, erleichtert.
Willst Du mir wieder, und regelmässig, schreiben? tu’s Arthur!– ich bitte Dich darum. Deine Briefe, so sehr sie mich manchmal quälen, fehlen mir doch sehr, wenn sie nicht kommen. Und schreib nicht so »avec les dents serrées«, Lieber, entschliess Dich, den Mund, und sogar ein bischen das Herz (hast Du eins?!) aufzutun, – mir gegenüber kannst Du es ruhig wagen.
Wirst Du mir, einmal und mit der Zeit, etwas von Deiner Arbeit erzälen? ich möchte so gern was davon wissen.
Bau mir eine Brücke, Arthur, eine kleine Brücke, damit ich, wenn ich nach Wien komme, mich auch auf Dich freuen kann, und nicht wieder geschreckt, verschüchtert, gänzlich geschreckt, Dir aus dem Weg gehen muss. Ich bitte Dich,– tu’s!
Und schreib mauch auch über die Kinder, denn so lieb ihre Briefe sind, es ist mir doch viel zu wenig, was sie mir schreiben.
Ja, und nun will ich Dir noch was von meiner Lectüre erzälen,– ein sonderbares Erlebniss: ich hab neulich durch Zufall die »Histoire comique« von A. France, in der Übersetzung von Heinrich Mann, gelesen, und bin erstens sehr enttäuscht von der Übersetzung, die stellenweise in groben Berliner Argot ausartet,– und zweitens sonderbar enttäuscht von dem Buch selbst, von seiner innern, erotischen Welt, allzu französisch, allzu sehr sexuell. Hamsun, in den ich mich dann rettete, war ein Labsal: ja, der weiss, was Lieben heisst. Und nun sonderbarer Um- und Rückweg, bin ich bei Stendhal (über den Bahr auch zufällig neulich schrieb), er ist doch der höchste Franzose,– weil er am weitesten weg von seiner Nation gekommen ist.
Das hab ich längst gefühlt: jeder grosse Mensch muss sich weit über seine Nationalität, seine Rasse, seine Karte, seine Religion erheben, – ohne seine Wurzeln zu verlieren.
Hauptmann ist kein grosser Mensch,– Arthur, – leider fürcht ich das. Er ist von einem mittlern Boche-Geist erfüllt,– und er sollte Goethe’s Namen nicht müssig nennen.
Leb wol, Lieber, alles Herzlichste.
O.
Ich möchte den Heini so gern Theater spielen sehen. Küss beide Kinder Tausendmal.