Hermann Bahr: Dialog vom Marsyas, Oktober 1904

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»Du könntest dich, sagte der Meister, auch auf unseren Arthur berufen, dem man auch immer mehr den Ekel vor allen Leuten der Kunst anmerkt. Zog er schon in der »Literatur« einen albernen Grafen dem Literaten sichtlich vor, so läßt er uns gar im »Einsamen Weg« doch keinen Zweifel mehr, daß ihm ein unbegabter, aber anständiger Mensch lieber ist.«
»Er hat recht, sagte der Künstler. Anständige Menschen haben es eben nicht nötig, begabt zu sein. Sie brauchen die Kunst nicht, denn sie haben das Leben; darin zeigen sie sich. Vielleicht ist dieselbe Kraft in allen Menschen, nur daß die einen sie auf das Leben verteilen, die anderen aber geben sie an ihre Werke ab. Wem sich jenes ergibt und wen es erfüllt, der wird höchstens einmal durch den Wunsch, sich schön zu erinnern, zur Kunst geführt. Nur wer sich vom Leben ausgestoßen fühlt, wen es ängstigt, wer keine Macht hat, es unmittelbar zu gestalten, der versteckt sich vor ihm in der Kunst. Nur wer das Leben entbehrt, schafft sich durch Kunst seinen Schein. Wer aber das Leben entbehrt, ist schlecht. Dies hat mich oft gequält, ich habe mich nur immer gewehrt, nun aber nötigt es mir dein Marsyas ab. Nur verzeihe mir, wenn ich frage, ob es nicht unfruchtbar ist, uns damit zu peinigen. Es wird immer Menschen geben, die sich im Leben nicht erfüllen können, und so lange wird es Künstler geben.«
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»Ich meine, sagte der Meister, von deinen Reden trifft vieles sicherlich auf die heutige Kunst zu, nur tust du, als ob sie die einzige wäre. Es gibt gewiß eine solche Kunst aus Mangel, wie du sie geschildert hast. Aber es wäre doch sonderbar, wenn du nie bemerkt hättest, daß es auch eine andere gibt: aus Fülle. Wer bei sich nicht genug zu leben hat, greift nach der Kunst, ja; aber auch wer mehr hat, als er braucht. Wobei man sich billig wundern mag, daß wir für jenen höchsten Ausdruck menschlicher Not wie für diesen menschlichen Glücks denselben Namen haben. Das Gefühl, unfähig des Lebens zu sein, die Scham darüber, die Angst davor und der Wahn, das Leben ersetzen zu können, dies alles bis zu einer explosiven Beklemmung gesteigert, macht produktiv. Aber auch das Gefühl, stärker als das Leben zu sein, der Stolz darauf, die Lust, sich verschwenden zu dürfen, und die Furcht, sonst an sich zu ersticken, macht produktiv. Jenes zu Werken, welche mehr sind als ihr Mensch und diesen geschwächt zurücklassen. Dieses zu Werken, welche geringer sind als ihr Mensch, da sie von ihm nur enthalten, was ihm zu viel ist, was er, um sich zu entladen, abzugeben wünscht und wovon befreit er sich erleichtert und erfrischt fühlt. Ich möchte aber noch einmal, daß wir uns nicht in die Kunst einengen, sondern lieber alles Tun betrachten, das überall ebenso aus Schwäche, um sich daran zu steigern, als aus Kraft, um sie dadurch zu stillen, geschehen kann. Es gibt Menschen, die leer sind, und wird ihnen nun ein Reiz von außen zugeworfen, nichts haben, woran er sich aufhalten könnte, sondern selbst von ihm, indem er zurück und wieder nach außen prallt, mitgerissen werden; unfähig, sich selbst zu bewegen, fühlen sie sich im Schwunge solcher Reize erst, welchen sie für ihren eigenen halten; weshalb sie auch zu sagen pflegen, daß sie nur in ihren Werken oder nur in ihren Taten leben. Es gibt aber auch andere, welche voll sind und nun jeden Reiz, der zudringt, in sich selbst einfügen und an sich selbst befestigen können, so daß er mit ihnen verwächst und in ihnen reifend sich verwandelt, bis er zuletzt, wenn ihnen zu enge wird, abgestoßen und wieder nach außen zurückgegeben werden muß, reicher als sie ihn empfangen haben, und ihnen eigentümlich gemerkt. Was Schiller an Natalien so bewundert hat, die er rühmt, ihr sei die Liebe aus einem Affekt zum permanenten Charakter geworden. So ließe sich denn auch sagen, daß es eine Kunst oder überhaupt ein Handeln aus Affekt, eine andere, ein anderes aus Charakter gibt, wäre nicht freilich zu fürchten, es möchte dies gleich wieder ins Sittliche hinüber mißverstanden werden, während es doch immer bloß eine Frage der inneren Verfassung ist, ob man nur in Anfällen und krampfhaft wirkt oder stetig, durch Natur. Welche Art aber mehr wert sei, ist müssig gesorgt, da beide doch im menschlichen Wesen sind, und es fällt mir nicht ein zu fordern, daß wir uns von jener, der unsere Generation ergeben war, dieser zuwenden sollten. Die Frage ist ja nie, was wir sollen, sondern was wir müssen. Darüber aber vermute ich allerdings, daß das nächste Geschlecht, das sich anschickt, uns abzulösen, wieder der Kunst oder überhaupt dem Tun aus Charakter gehören wird.«
»Davon müßte es, sagte der Arzt, aber doch schon Zeichen geben.«
»Ihr seht sie nur nicht, erwiderte der Meister. Ich könnte gleich auf Hauptmann oder Schnitzler zeigen, von welchen wir eben sprachen. Schon den Kramer, mehr noch die Bernd hat man zu still gefunden und manche, die es nicht erwarten können, haben darin ein Altern und Nachlassen der Kraft bemerken wollen, welche bei ihnen lärmen muß, während mir die ruhige, die sich nicht erst zu erhitzen braucht, um zu wirken, doch mehr gilt. Diese ist es auch, die mir den ›Einsamen Weg‹ so wert macht, der es in seiner wunderbar hellen und harten Technik verschmäht, an allen Nerven zu zerren, und das Espressivo, wie die Musikanten es nennen, worin die Aufregung des Darstellers den Wert der Darstellung übertreiben soll, überall zu dämpfen weiß, vielleicht doch auch, weil es dem Dichter wichtig geworden ist, sich zu schonen, weil er jetzt den Stolz hat, sich zu verwahren, weil er sich nicht mehr in einer einzigen Wirkung verknattern und verpuffen will. Ist es aber vielleicht nur ein Zufall, wenn Hauptmann und Schnitzler jetzt die stimulierende Kunst der Konvulsionen verlassen, so hat Nietzsche dies bewußt verlangt. Sein ganzer Haß gegen Wagner geht nur auf die Kunst aus Affekt und als er mit ihm rang, war es der Zorn über sie, der ihn so grausam sich erbittern ließ. Er muß an dem, wie er einmal sagt: gemischten unreinen Charakter der Künstler furchtbar gelitten haben. Ich wüßte nicht, ruft er gepeinigt aus, warum fruchtbare Menschen sich nicht still und anspruchslos benehmen sollten; und sehnsüchtig denkt er an Menschen wie Moltke; und so widerlich sind ihm jetzt Künstler, die durch die Kunst menschlich geringer werden, daß er fast an ihr selbst zu zweifeln beginnt und auf Werke verzichten will, die der Künstler mit seinem Werte büßt: denn, sagt er, das Kunstwerk gehört nicht zur Notdurft, die reine Luft in Kopf und Charakter gehört zur Notdurft des Lebens. Und dann klagt er über das unbeschreibliche Unbehagen, welches so oft produktive Menschen um sich verbreiten, und klagt, wie sich ihre Umgebung an ihnen den Charakter und den Geschmack verdirbt, und setzt das mächtige Wort hin, das mir immer wie das Programm einer neuen Menschheit klingt: Große Menschen ohne Werke tun vielleicht mehr Not als große Werke, um die man einen solchen Preis von Menschenseelen zahlen muß. In dieser Stimmung sagt er, mißtrauisch gegen jeden Exceß geworden, der den schaffenden Menschen verstört: Alles Ausgezeichnete hat mittlere Natur. Und als hätte er mit uns die griechische Warnung vor dem Marsyas vernommen, einmal geradezu: Der starke freie Mensch ist Nicht-Künstler.«
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