Hermann Bahr: Tagebuch. 10. Juni, 6. 11. 1908; mit Anmerkungen von Arthur Schnitzler, [11.–13.] 11. 1908

Tagebuch / Von Hermann Bahr

10. Juni. Sehr schön ist die ruhig kreisende Bewegung, die Schnitzlers Roman hat. Langsam steigt er auf und scheint dann in der Luft zu liegen, auf großen Flügeln. Ich könnte das nicht. Ich möchte das vielleicht auch gar nicht. Aber es ist sehr gut, daß es einer kann und will, und wird mir selbst durch das Sentimentalische seiner Art nicht gestört. Dieses kommt wohl daher, daß ihm um Oesterreich leid ist. Während ich finde, daß um dieses Oesterreich, das einem leid tun kann, nicht schade ist; jenes Oesterreich aber, das wir lieben, haben wir in uns selbst, und es wird nur unsere Schuld sein, wenn es nicht erscheint. Wir alle spüren die starke Zukunft, welcher die Menschen hier fähig sind. Sie brauchen nur den Mut, die Vergangenheit abzutun, um aus ihr zu sich zu kommen. Da sind wir nun aber dort, wo ich die Juden nicht verstehe. Sie hätten es so leicht. Ich beneide sie. Sie haben keine verfallenen Schlösser und keine Basalte. Sie stört nicht, zu lebendiger Zeit, unnützes Erinnern. Diese ganze rostige Kultur, mit der wir uns schleppen, in der wir, von den Vätern her, ersticken, ist ihnen fremd. Sie hätten es so leicht: Benutzt die Gegenwart mit Glück! Sie könnten uns dabei die besten Helfer sein. Uns sitzt jedem, von den Großeltern her, noch irgendeine liebe dumme Theresianische Zärtlichkeit im Gemüt und macht uns das Blut dick. Darin sind wir gute Deutsche, denn deutsch ist es, an nichts tiefer zu leiden als an seiner Vergangenheit. Der Ruf des Todes ist es, der uns alles Leben hemmt. Da hätten nun die Juden vor uns dies voraus, daß sie nicht unsere Vergangenheit haben. Wie lang ist’s denn her, daß sie erst eingelassen wurden? Warum nützen sie das nicht aus? Warum helfen sie uns nicht, wenn uns Erinnerung feig und kläglich macht? Wie oft muß ich mit dem elenden Großvater hadern, der durch mein Blut spukt und mir mit seinem Dunst des Statthaltereirats plötzlich den Verstand betäubt! Wie oft werde ich von mir wieder auf der albernsten Rührung ertappt, bis ich mich selber am Ohr nehme: Wach auf, das bist ja gar nicht Du, das ist schon wieder eine von den frommen Großmamas, die in Dir flennt! Daher das verfluchte Biedermeiern, in Gedanken und Gefühlen. Wir biedermeiern ja gar nicht, es biedermeiert in uns. Was aber biedermeiert in den Juden denn? Wie können sie an einer Vergangenheit leiden, die sie gar nicht haben? Statt aber eben darin ihren Stolz und den Mut zu sich selbst zu finden, züchten sie sich jetzt unsere Vergangenheit an, was natürlich gar nicht möglich ist und sie nur lächerlich und verächtlich macht. Alle leiden wir an jenem unnützen Erinnern. Wir erkennen, daß wir genau so viel leisten und vor der Zukunft einst gelten werden, als es uns gelingt, Vergangenheit zu vergessen und Vergangenheit vergessen zu machen. Eben das aber, was wir vergessen wollen, daran spritzen sich die Juden jetzt ein künstliches Erinnern ein. Das lustigste Beispiel ist mir immer die Geschichte mit dem Vaterunser, die ich so gern erzähle. Ein Jude sagte einmal, irgend etwas sei ihm unvergeßlich. Und um den Grad der Unvergeßlichkeit recht zu beteuern, sagte er: Unvergeßlich wie das Vaterunser! Ich stutzte. Ich versuchte das Vaterunser aufzusagen. Es gelang mir nicht. Ich bin ganz fromm erzogen, meine Mutter war fast, was man eine Betschwester nennt, und in Salzburg, wohin ich dann ins Gymnasium kam, wurden wir sehr kirchlich gehalten. Es gelang mir aber nicht, ich fand schon den dritten Satz nicht mehr. Nun war ich neugierig, ich fing meine Freunde zu prüfen an. Zunächst die, welche in katholischen Klöstern erzogen sind, in Kremsmünster oder bei den Schotten. Siehe da, sie wußten alle das Vaterunser nicht mehr. Wenn ich aber an einen Juden kam, der wußte es. Ich habe das Experiment zuletzt noch in Berlin an unserm Tisch im Savoy gemacht. Da ist ein Baron, den die Jesuiten in Kalksburg erzogen. Dann ist ein Elsässer da, der einmal zu den großen Hoffnungen der katholischen Literatur gehörte. Wir drei versuchten nun, zusammen das Vaterunser zu buchstabieren. Es gelang uns nicht. Aber da kam lachend Schalom Asch und half uns aus, der wußte es. Ich habe jetzt wenigstens ein Mittel, Juden zu erkennen. Ich frage einen bloß, ob er das Vaterunser weiß.
In Schnitzlers Roman ist auch manches Beispiel dafür. Er selbst, dies spürt man überall, er will ja mit aller Kraft heraus: von der angelogenen Vergangenheit weg und aufs Leben los, auf unser eigenes Leben! Jene jüdische Rührung über alles, was die Juden nicht angeht, hat er zu einer Stille, Weiche, Güte der Darstellung gezügelt, die einen künstlerischen Reiz aus ihr macht. Freilich fühlt man ihr bisweilen seine Neigung an, wegzutreten, beiseite zu stehen, nicht mitzutun, wozu Gerechtigkeit so viele von uns verführt. Er hat eine Neigung, gekränkt zu sein, wo es vielleicht nützlicher wäre, wütend zu werden (er kann mir allerdings antworten, daß sich Gefühle nicht kommandieren lassen). Ins Freie kommt man freilich, wenn man weggeht. Aber ist es die Freiheit von Flüchtlingen, die wir wollen? Wird Oesterreich frei, wenn man sich von ihm frei macht? Und an die Kraft der stillen Arbeit, von der ihr immer sprecht, kann ich nicht mehr glauben. Still gearbeitet wird in Oesterreich seit hundert Jahren; und es ist noch immer still.
Und noch etwas kann ich an Schnitzler nicht verstehen. Erstens teilt er den Irrtum der Juden in Oesterreich, als ob ihr Fall ein besonderer wäre. Das ist er nicht. Sie werden unterdrückt, gewiß. Aber es werden auch die Tschechen, die Ruthenen, die Kroaten, die Rumänen, die Slovenen und die Italiener und so weiter unterdrückt. Der Jude hat bei uns nicht dasselbe Recht wie irgendein deutscher Christ der herrschenden Klassen. Aber der Arbeiter hat es auch nicht. Gar nicht zu reden davon, daß auch der Protestant, oder wer keine Konfession hat, hinter den Rechten der Katholiken zurücksteht. Statt sich nun aber zu den anderen Unterdrückten zu schlagen, biedern sich die Juden entweder den Mächtigen an oder isolieren sich, ich weiß nicht, was dümmer ist. Und zweitens (was mich auch in diesem Roman zuweilen befremdet) schädigen sich die Juden durch eine Forderung, die man ihnen nie bewilligen wird: sie fordern Liebe. Das spüre ich in diesem Roman wieder so stark. Die Juden sitzen da und denken traurig nach, warum man sie nicht gern hat. Aber ich glaube nicht, daß sich das durch ein Gesetz ändern läßt. Ich muß auch gestehen, daß es mir durchaus unbegreiflich ist, wie man darunter leiden kann. Mich haben gewiß viele tausend Menschen gern, aber ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Minute darüber nachgedacht, es hat mich immer gefreut. Was ist das für ein Wunsch, von aller Welt geliebt zu sein? Ich stelle mir das gar nicht so schön vor.