Hermann Bahr: Brief an Arthur Schnitzler, Mai 1922

Brief an Arthur Schnitzler

Lieber Arthur!

1889 in Paris, als ich eben über den Winter nach Spanien und Marokko ging, erhielt ich einen Brief mit der erstaunlichen Nachricht, auch Wien fange jetzt von neuem zu dichten an, wenn auch zunächst nur in Brünn. Und die Beredsamkeit eines jungen Brünners hatte wirklich einen bisher unbescholtenen Buchdrucker so betörend verwirrt, daß richtig Neujahr 1890 das erste Heft der »Modernen Dichtung« erschien, eine »Monatsschrift für Literatur und Kritik« verheißend, von E. M. Kafka herausgegeben, im Verlag von Rudolf M. Rohrer in Brünn: ein Ereignis für uns Jungen, denn schon das verpönte »Modern« im Titel kündigte den Bruch mit dem geheiligten Brauch an, auch ein noch so sittsames, unärgerliches, zimmerreines Talent, selbst wenn es von den Auguren schon beglaubigt war, erst mit ergrauenden oder ausgefallenen Haaren einzulassen; es müsse dunsten, um schmackhaft zu werden. Ungedünsteten hatte bisher nur Michael Georg Conrad Zuflucht geboten, in seiner »Gesellschaft«, seit 1885: hier war nicht nur erlaubt, jung zu sein, es war geboten; und es wurde jetzt, in Kafkas »Moderner Dichtung« hier und gleich darauf in Brahms »Freier Bühne für modernes Leben« auch draußen, ein Programm, jung zu sein, dem wir die Treue hielten, so lang es irgend ging. In dieser »Modernen Dichtung« las ich zum erstenmal Deinen Namen. Zwar warst Du schon vorher in einem Blättchen, das glaube ich »An der schönen blauen Donau« hieß, lyrisch aufgetaucht, aber erst jetzt zeigst Du Dein wahres Gesicht: Anatol erscheint, und in bester Gesellschaft; dasselbe Heft, das den »Hochzeitsmorgen« bringt, enthält Gerhart Hauptmanns »Apostel«, Liliencrons »Gruß an ÖsterreichS. 424–425.« und Beiträge von Bölsche, Maria Herzfeld, Paul Ernst, der Baronin Suttner, Dörmann, Kitir, Josef Diner, Salten, Hermann Menkes und mir. Und das Jahr darauf gibst Du dem Blatt, das sich indessen umgetauft hat und jetzt »Moderne Rundschau« nennt, nicht bloß die »Denksteine«, nicht bloß ein schwärmerisches Gedicht, gewissermaßen einen Stoßseufzer darüber, daß Dir nichts Ordentliches einfällt, sondern, Arthur, Arthur, Du wirst es nicht glauben, aber Du kannst es nicht leugnen, es zeigt sich da schwarz auf weiß, daß Du damals ehrlich bemüht und auf dem besten Wege warst, Dich zum richtigen Feuilletonisten, und nicht etwa bloß von der großen Art, sondern auch von der andern, umzufrisieren. Du schriebst damals eifrig Buchkritiken, und eine davon schließt mit dem Ausruf: »Das Schauspiel ist, wie auf dem Titel bemerkt steht, den Bühnen gegenüber Manuskript. Die Bühnen werden sich das nicht zweimal sagen lassen.« Ist das nicht schon ganz der Augenaufschlag des triumphierenden Plauderers, vor dem die schöne Leserin in Wonne zerfließt? Und ich bewahre noch aus der Zeit, als ich Redakteur der Deutschen Zeitung war, einen Brief von Dir mit der ganz ernsthaften, treuherzigen Versicherung: »Schließlich werde ich doch wohl auch das Feuilletonschreiben lernen – vorläufig fehlt mir noch manches dazu.« Ja, lieber Arthur, um ein Haar wärst Du vielleicht ein glänzender Causeur geworden, der Sonntagscauseur Wiens, wie Du doch auch um ein Haar Dein Alexander Weihgast hättest werden können. Und gerade diese paar Haare, um die Du dies und noch mancherlei, was in Deinem Horoskop stand, nicht geworden bist, haben Dich mir von Jahr zu Jahr immer lieber und werter gemacht!
Wir lernten uns 1891 kennen. Ich war in Wien gelandet, in meinen jungen Ruhm gehüllt, in Berlin zum »Kritiker der Moderne« ernannt, hochmütig, übermutig, unmutig, ein selber ganz ratloser Führer, durch die Welt wurstelnd. Du warst ein junger Arzt ohne Patienten, auf die Dein Wartezimmer (in der Giselastraße, wenn ich mich recht erinnere) sichtlich auch gar nicht wartete, sondern auf Froufrou von Frauen: es ergab schließlich den ersten Akt der »Liebelei«, damit hat es sich gerechtfertigt. Im »Einsamen Weg« heißt es: »Wir bringen einander die Stichworte so geschickt – es gibt pathetische Leute, die solche Beziehungen Freundschaft nennen.« Pathetisch sind wir nun eigentlich beide nie gewesen, immerhin duzten wir uns bald, sahen uns oft und wetteiferten in Stirnlocken: Du mit einer blonden, die sich elegischer gab, ich mit einer braunen, südlich wehenden. Die Leute konnten sich nicht einigen, wer von uns mehr posierte, und ich darf annehmen, daß ich Dir damals nicht weniger unausstehlich war als Du mir. Du warst mir unausstehlich vor allem durch dein unwiderstehliches Talent. Nicht als ob es mich neidisch gemacht hätte; Neid lag niemals im Bereich meiner Möglichkeiten. Nein, ich bewunderte Dein Talent und mißgönnte Dir’s nicht, aber ich hätte Deinem Talent gern einen anderen Menschen gegönnt, ich hätt ihm einen anderen Kerl gewünscht. Dieses Wort drückt genau das aus, was mir damals an Dir fehlte: Du warst mir nicht der Kerl zu Deinem Talent, Du warst überhaupt kein Kerl und ich glaubte zuweilen Deinem Talent immer wieder anzuhören, wie tief es sich insgeheim nach einem Kerl dazu sehnte: der stärkste Reiz Deiner Dichtung, auch im Scherz, selbst im Spotte noch, ihr Hauch einer unendlichen Melancholie, schien mir durch diese quälende Sehnsucht erklärt. Und da dies, was ich hier niederschreibe, ja nur den einen Sinn haben kann, daß einmal Jemand, der Dich seit dreißig Jahren kennt, Dein ganzes Werk sozusagen persönlich miterlebt hat, es schätzt, und Dich, so sehr er sich zuweilen dagegen gewehrt hat, jetzt schließlich, besonders seit wir uns so selten sehen, liebt (entschuldige das Wort, das auch ich nicht mag, aber was ich für Dich empfinde, hat nun einmal im Deutschen diesen Namen!), daß Dir der rücksichtslos aufrichtig sagt, was er in Dir erkannt zu haben meint, so wirst Du mir auch verzeihen, wenn ich ausspreche, daß für mich Dein ganzes Werk im Wesenlosen liegt, daß ich aus ihm nur immer wieder dieselbe rührende, ja, wenn es scherzen will, erschütternde Klage höre, nicht nach einem verlorenen Paradies, sondern darüber, gar kein Paradies zu verlieren gehabt zu haben, daß Deine Gestalten nicht Entwurzelte sind, sondern wurzellos von vorneherein. Vor hundert Jahren haben Romantiker den letzten Versuch eines lebendigen Österreichs gewagt. Er wurde mit Recht Restauration genannt: Herstellung von etwas, das es nicht mehr gab, schon seit dem Barock nicht mehr. Und alle Dichtung in Österreich, wie sie sich auch immer geberden mochte, blieb fortan romantisch: in welcher Zeit immer sie spielen mag und auch wenn sie Gegenwart fingiert, sie lebt vom Gewesenen. Du warst der Erste, Du bist der Einzige geblieben, der wirklich nach der Gegenwart zu greifen versucht hat. Es gelang Dir. Und wenn Dir davon nichts als Schein in Deiner Hand blieb, lag nicht an Deinem Griff die Schuld, sondern an dieser Gegenwart, die keine war, sondern nur eine Fiktion. Und noch dazu eine von ganz besonderer Art. Man kann nämlich eine Vergangenheit fingieren, diese kehrt dadurch nicht wieder, aber es entsteht ein Nachbild davon, das immerhin eine gewisse Realität ansprechen mag, wenn auch eine gefälschte. So mag man auch kraft der Phantasie sich eine Zukunft fingieren können und wenn nur die Phantasie stark genug ist, eben durch den phantastischen Drang auf dieses lockende Bild hin sich selber belebt fühlen (ich, zum Beispiel, habe davon die Kosten meines ganzen inneren Daseins bestritten; bisher gings). Aber wenn es an Gegenwart fehlt, sich eben aus ihr, die fehlt, fingieren zu wollen, was fehlt, das scheint ein seltsamer Einfall, zu dem viel Selbstvertrauen gehört. Er ist übrigens nicht von Dir. Du bist nur der Vollender und hast Dich Deiner Anfänger nicht zu schämen. Laube war der erste. Wissend, daß zum Theater, wenn man es hohen Sinnes nimmt, Dichter und Schauspieler nicht ausreichen, so lange sich ihnen nicht ein Publikum gesellt, das, ihre Wirkungen auffangend nicht blos, sondern auch erwiedernd, mit zum Spiel gehört, da sich an ihm erst das Wunder der Allverwandlung beglaubigt, war er unangenehm überrascht, sich eingestehen zu müssen, daß in Wien zurzeit, als er das Burgtheater übernahm, die Voraussetzung eines wirklichen Publikums fehlte: eine Gesellschaft. Es gab eigentlich die alte Wiener Gesellschaft nicht mehr und es gab noch kaum Spuren einer neuen. Es gehört zu den stärksten Leistungen Laubes, daß er sich eine schuf, oder doch jedenfalls so viel von ihr, als nun einmal zum richtigen Theaterspielen unentbehrlich ist. Wien hatte kein wirkliches Bürgertum, stark genug, als die höfische zerging, eine Gesellschaft nach den westlichen Mustern zu bilden. Laube holte sich nun aus der fließenden Schicht von Doktoren, Beamten und was sonst noch etwa sich zu den »Gebildeten« hielt, einen Ersatz dafür. ln seinem Burgtheater drehte sich das natürliche Verhältnis des Schauspiels zur Gesellschaft um: hier ward nicht mehr von der Bühne die Gesellschaft abgespiegelt, sondern Du wirst Dich erinnern, daß noch weit über Laube hinaus, noch bis in unsere Jugend hinein, alles was jener Zeit sich Wiener Gesellschaft hieß, selber blos ein Spiegelbild des Burgtheaters war; Du selbst hast noch von Sonnenthal und Hartmann gelernt, wie der Mann von Welt in einen Salon tritt, den Schmerz, sich seiner tiefen inneren Einsamkeit auf einen Augenblick entreißen zu müssen, in ein lässiges Lächeln hüllend. Aber wenn Dein erster Ahn das Burgtheater Laubes war, der zweite war die Ringstraße, dieses Unicum in der Baugeschichte: denn hier wurde der äußere Schauplatz für eine Gesellschaft errichtet, die noch gar nicht da war, die dann, um ihn zu füllen, sozusagen über Nacht geschwind erst improvisiert werden mußte. Du hast Dir sicherlich als Gymnasiast den Makartfestzug angesehen: das war die große öffentliche Generalprobe des neuen Wien, da ritt es nun in Fleisch und Blut einher, woher mag es nur eigentlich das frische rote Blut gesogen haben?
Und genau zwölf Jahre später aber gingen nun wir zwei zuweilen in Mondnächten über diesen in unserer Kindheit auf Befehl von oben aus Nichts improvisierten Ring und unsere Herzen schlugen vor seliger Empfindung seiner Schönheit! Erinnerst Dich noch, wie wir damals, immer unseren heimlichen Ernst in Selbstironie verkleidend, einst den Ring kindisch unter uns verteilten, das eine Stückl sollte dem Richard Beer-Hofmann, das andere dem Hugo, der damals, bis er die Matura hinter sich hätte, noch Loris hieß, das dritte Dir gehören und jeder feierlich geloben, auf keinen Fall ein Stückl der anderen zu bedichten, erinnerst Dich? Als mich vor ein paar Jahren mein Schicksal, das sich zuweilen in solchen Späßen gefällt, plötzlich ins Burgtheater verschlug, fiel mir in meinem Kammerl dort mit dem Blick aufs Rathaus eines Tages das verklungene Glück jener Jugendnächte wieder ein und nun ging mir erst auf, welches Wunder uns damals eigentlich geschehen war: dieser Ring, aus Nichts entstanden, auf einen äußeren Anlaß hin, ohne jeden inneren, aus Luft in die Luft gebaut, nicht blos ungeschichtlich, sondern auch ganz unlebendig, weder Ausdruck einer Vergangenheit noch einer Gegenwart, nichts als ein improvisierter Maskenscherz, hat mit seiner Wesenlosigkeit über unsere schönste Jugendzeit die Macht einer beseligenden Wirklichkeit gehabt! Ja wie denn? Kann denn das sein? Kann ein Nichts schwanger werden? Aber eben dies war ja das Paradox der ganzen Epoche Franz Josefs: ein schöpferisches Nichts zu sein! Österreich, das wirkliche, war weg und diese Unwirklichkeit trug die schönsten Früchte: sie trug uns.
Schau Dir nur einmal Deinen Anatol, meinen Freund, an! Bist das Du? Nein, er fälscht Dich. Er kopiert Hartmann, gibt sich ein Air alten Burgtheaters, schielt aber auch nach der Comédie française, hat schrecklich viel Franzosen gelesen, aber beim Leidinger, und will nun auf einmal noch Dir ähnlich sehen. Sei nicht bös: er ist Papier. Aber was geschah? Dieser Anatol, der eben noch Papier war, lief dann auf einmal höchst lebendig in allen Gassen herum: nach ein paar Jahren war jeder bessere junge Herr zum Anatol, aus Druckerschwärze war auf einmal rotes Blut geworden. Soll man nun sagen: Du hast ein profetisches Gemüt, Du hast mit dem Anatol eine Vision der Zukunft gehabt? Oder soll man sagen: Du hast seiner Gestalt einen so starken Atem eingegeben, daß sich das Leben selber von ihr zwingen ließ, sie zu kopieren, Dich zu kopieren? Ich denke: der Anatol ist fast etwas Symbolisches für uns alle, dadurch, daß in ihm aus lauter Unwirklichkeiten auf einmal Wirklichkeit geworden ist. Er gab uns damit ein Beispiel der einzigen Art von Existenz, die für uns noch möglich war: einer Existenz nicht aus sich heraus, sondern auf etwas los. Österreich war schon seit hundert Jahren vorbei, es ist mit Karl VI. begraben worden; das Metternichs war nur noch der letzte Versuch einer grandiosen Erinnerung. Nichts blieb zurück, aus dem man noch hätte leben können. So sieht sich seitdem jeder Österreicher unablässig angstvoll nach etwas um, auf das hin er leben könnte. Keiner hat Wurzeln, jeder greift ins Leere, er möchte sich an etwas hängen können, und wärs auch nur, um sich wenigstens aufzuhängen. Du hast ihnen manchen Strick zugeworfen! Aber vom Anatol zum Schleier der Beatrice, von der Liebelei zum weiten Land, vom Reigen zum jungen Medardus, welch ein Weg! Und daß es immer der einsame Weg war, den Du nahmst, und daß er Dir immer wieder ein Weg ins Freie wurde, daß Du Dich auf keinem Deiner Erfolge jemals beruhigt niedergelassen, das hat mir immer von neuem wieder Bewunderung abgerungen! Talent hat bald einer, das ist leicht, Du aber hast gewußt, daß Talent nur so viel wert ist, als man es sich schwer werden läßt. Talent ist immer eine Schuld. Ich, der Deiner Arbeit seit zweiunddreißig Jahren zusieht, a little more than kin and less than kind, wie unser Vetter Hamlet sagt, kann bestätigen, daß Du sie redlich bezahlt hast.
In meiner grünsten Jugend sprach ich einst öffentlich den Wunsch aus, Jedermann sollte an seinem dreißigsten Geburtstag erschlagen werden, nachher sei man doch nichts mehr nutz. Indessen war dann auf einmal mein vierzigster über mir. Du kanntest meine Verzweiflung und zum Trost schriebst Du mir damals auf ein Bild: »Erinner Dich, wie oft Du schon alt gewesen bist, und freu Dich, wie oft Du noch wieder jung sein wirst!« Arthur, heute kann ich Dich bestimmt versichern: so ganz richtig jung werden wir zwei gewiß erst mit siebzig! Aber könnten wir uns nicht vielleicht doch schon vorher einmal Wiedersehen? Dies wünscht sich und Dir von Herzen Dein, wie Du siehst, unverbesserlicher
Hermann Bahr.