Hermann Bahr an Arthur Schnitzler, 17. 9. 1905

17. 9. 1905

Lieber Arthur!

Ich war sehr verstimmt Dich heute verfehlt zu haben – ich bin sonst Vormittag fast immer zu Haus, nur heute musste ich ins Jubiläumstheater, da dieses, seines Patriotismus wegen, ausersehen ist, den »Klub der Erlöser« zu bringen, den ich Dir nächstens schicke, er ist eine Parallele zu »Unter sich«. Nun habe ich sogleich den »Ruf des Lebens« gelesen. Ich danke Dir herzlichst für die Absicht, ihn mir zu widmen, und Du machst mir eine sehr grosse Freude, wenn Du es wirklich tust. Seine »Gesinnung« (ich find im Augenblick nur dieses dumme Wort) hat mich sehr ergriffen und in dieser ungeheueren Angst, die er ausdrückt und mitteilt, der Angst das Leben zu versäumen, das einzige, das Höchste, geht er mir sehr nahe, ja ich glaube, dass Du noch nie so tief in das Gemüt unserer Generation und ihre letzte Sehnsucht eingedrungen bist. (An meinen »armen Narren«, von dem ich nur noch kein Exemplar für Dich frei habe, und einem kleinen Kainzbüchel, das bei Freund kommt, wirst Du sehen, dass mir dies, gerade dies und eigentlich nur dies allein unser eigentliches Problem scheint, von dem mir alle anderen unserer Forderungen oder Fragen nur Abwandlungen oder Variationen scheinen). Was nun die Ausführung betrifft, einstweilen unter dem ersten Eindruck nur folgendes: prachtvoll finde ich den Vater, von einer Plastik, die vielleicht noch nie eine Figur von Dir gehabt hat, ebenso stehen mir Marie und die gleich von mir geliebte Katharina wunderbar lebendig da, auch Dr. Schindler und Rainer sehe und höre ich, wenn schon ferner und stiller als jene. Dagegen (die Schuld mag an mir liegen, ich will Dir auch nur meinen ersten Eindruck sagen, wie sich ja schliesslich auch das Publikum immer nur an den unmittelbaren Eindruck hält) dagegen sehe ich den Obersten, seine Frau und Max gar nicht. Den Obersten kann ich mir denken, und es reizt mich sehr, mir ihn zu denken, er geht mir nach, ich ihm, und ich dichte mir sein ganzes Leben hinzu, bald dieses, bald jenes, aber dies bleibt meiner Willkür frei, ich muss nicht, denn es ist doch zu wenig von seiner Vergangenheit da, und nichts, das mich zwingen würde, daraus sein ganzes Wesen zu erkennen. Was noch mehr für seine Frau und vom Lieutenant gilt. Die Kritik wird deshalb den zweiten Akt zu stark an Handlung und melodramatisch oder boulevarddramatisch oder dergleichen finden. Er ist es nicht, gewiss nicht, nur scheint mir der Ausgleich zwischen der auf die Handlung verteilten Kraft und der in die Figuren gelegten nicht völlig getroffen. Woher auch wohl das Gefühl stammt, das ich sehr lebhaft hatte, der Akt sei viel zu kurz, als ob alles nur angedeutet wäre, besonders an der sehr ruhig breiten Ausführung im ersten und dann wieder im dritten Akt gemessen. Doch über all das mündlich, sehr bald, wir müssen uns endlich einmal gründlich sehen. Grüss Deine liebe Frau bestens und sei herzlichst gegrüsst von Deinem
H.
Brauchst Du das Manuscript zurück? »Zwischenspiel« les ich morgen.