»Auf Entwicklung kommt es an.«
Rahel Varnhagen
IV
Im Frühling 1891 lernt
Schnitzler einen eben erst in
Wien aufgetauchten ungefähr gleichaltrigen jungen Schriftsteller kennen:
Hermann Bahr. Man hört von ihm, daß er vor nunmehr acht Jahren nach einer allzu deutsch-national
gefärbten
Rede, gehalten vor etwa dreitausend ihm zujubelnden Studenten, von der
Wiener Universität relegiert worden ist, worauf er sich in
Berlin,
Paris,
Spanien, Gott weiß wo noch, herumgetrieben hatte. Auf
Schnitzler wirkt er zunächst als »
ein liebenswürdig freier Mensch, im Gesicht Rohheit, Güte, Geist, Schwindelhaftigkeit«.
Bahr spricht entzückt über
Schnitzlers Drama »
Das Märchen«, das
Emanuel Reicher, Brahms stärkster Schauspieler, ihm in einem
Linzer Hotelzimmer vordeklamiert hat; und sofort plant er eine Aufführung. Noch vor der
Bekanntschaft mit diesem Werk und seinem Autor hatte
Bahr in der Zeitschrift »
Die Moderne Kunst« geschrieben: »
Arthur Schnitzler, ein geistreicher, zierlicher, sehr amüsanter Causeur, ein bischen
leichtsinnig in der Form, und nicht allzu gewissenhaft – vielerlei versuchend. Ich
habe das Gefühl, daß er tiefer ist als er sich gerne gibt und hinter seiner flotten
Grazie schwere Leidenschaft verbirgt, die nur noch schüchtern und schamhaft ist, weil
sie erst zu festen Gestalten reifen will.«
Seiner Ansicht nach hätten die jungen
Österreicher mehr Talent als die
Deutschen – ihm sei zum Beispiel
Schnitzler lieber als
Hauptmann – aber die
Berliner setzten sich gegenseitig in Szene, während die Wiener aufeinander schimpften. Am
Nichterkanntwerden gingen die
Österreicher zugrunde. Nicht allein das; sie bewunderten nur, was aus der Fremde kommt, vor ihrer
eigenen Art hätten sie keinen Respekt.
Gewiß,
Bahr wirkt sofort ermutigend; aber warum muß er, der seine Erlebnisse und Ideen oft so
lebendig zu formulieren versteht, neben einer Menge von unmittelbar gesehenen Dingen
so viel Schiefes sagen? Seine paradoxen Bemerkungen bringt er plötzlich vor, wie um seine Zuhörer absichtlich
zu reizen, wobei seine funkelnden Augen spöttisch blinzeln, sein
Linzer Dialekt von noch mehr Zischlauten durchsetzt ist als gewöhnlich. Begegnungen voll
schwankender Sympathie . . . denn
Schnitzler verhehlt es durchaus nicht, daß
Bahr ihn zuweilen ungeduldig macht.
Eines Abends, in lustiger Gesellschaft, wird allgemein Bruderschaft getrunken; und
Schnitzler, sonst immer auf gemessene Entfernung bedacht, kann sich dies eine Mal nicht entziehen.
Das war wohl die Ursache, daß er in späteren Jahren jedes freundliche Angebot auf
Bruderschaft immer wieder mit der Bemerkung ablehnte, er sei nur eines Menschen Duzbruder
geworden, und den hätte er zu jener Zeit nicht leiden können. Und wirklich: im Kreis
der Freunde ist es in all den vielen Jahren nie mehr zu solcher Verletzung der Distanz
gekommen. Nichts ist ihrer mißtrauischen Empfindlichkeit so zuwider wie die fälschende
Allüre der Nähe, die sich mit Anblinzeln, Zuruf, Schulterklopfen anbiedern will, während
darunter ein ganzer Abgrund von Beziehungslosigkeit gähnt. Die öde Kumpanei im Kreis
von Zufallspartnern kann ihnen nicht mehr Vortäuschen als sie ist, und echtes Einverständnis
stellt sich am ehesten auf der soliden Basis bewußter Einsamkeit her. Vollends dieser
Bahr: nachdem er stundenlang seine glänzende ironische mutwillige Beredsamkeit entfaltet
hat, steht er auf, geht weg, nimmt sich so leicht und restlos zurück, daß man nie
recht weiß, wozu er wirklich steht, woran er hängt, wo er wurzelt.
Es ist auch wenig Verlaß auf seine kritischen Maßstäbe. Sein Temperament, dem Wogen
eigener Gedanken und Empfindungen preisgegeben, scheint von jedem neuen Eindruck wahllos
hingerissen. Einen harmlosen Dilettanten, der gleich unbeträchtlich malt, dichtet
und komponiert, nennt er »den verschwenderischen Meister dreier Künste« – jeder sich neu gebärdenden Erscheinung geht er mit Fanfarenstößen voran.
Einmal betritt er gemeinsam mit
Schnitzler und
Beer-Hofmann den
großen Saal des Künstlerhauses. Von weitem bemerkt
Schnitzler ein Bild, das zunächst durch seine grellen blaugrünen Farben auffällt. »Das wird
dem
Bahr sicher gefallen«, sagt
Schnitzler zu
Beer-Hofmann. Und wirklich, schon ist Hermann
Bahr auf dieses Bild zugegangen, und davor stehend sagt er mit dem herausfordernden Ton,
den er immer hat, wenn er etwas Neuartiges durchsetzen will: »Also das ist das Bedeutendste,
was seit zehn Jahren gemalt worden ist.«
Damit schien seine eigene Einstellung weit mehr als das Bild charakterisiert, denn auf jeden Fall war er in revolutionärem Widersprach zum Althergebrachten
zu finden, immer in der fechterischen Stellung des Raufbolds, und das bis zu einem
Ausmaß, mit dem er nicht nur seine konservativen Leser verblüfft, sondern auch seine
Freunde ärgert und reizt.
»
Die Schmetterlingsschlacht« von
Hermann Sudermann, dem erfolgreichsten Theatraliker seiner Zeit, wird im
Burgtheater zum erstenmal aufgeführt – den Freunden erscheint sie als ein schwaches Stück. Nur
Bahr – in welche Regionen mochte ihn seine eigene Phantasie, seine innere Erlebniskraft
an jenem Abend getragen haben! – lobt »
Die Schmetterlingsschlacht« über die Maßen, zieht sie allen Stücken der letzten Jahre vor und erklärt, man
gehe mit einer philosophischen Heiterkeit heim, die keinen Groll mehr gegen die Welt
erlaubt und Mut gibt, das Leben zu bestehen. Erbittert über so viel Unverhältnismäßigkeit sagt ihm
Gustav Schwarzkopf, einer aus dem Kreis der Freunde, den man wegen seiner unbestechlich-klugen Urteile
schätzt, in seinem suffisanten Ton: »
Woher nähmen Sie denn das Material zu Ihren Kritiken, wenn Sie nicht das genaue Gegenteil
von allen andern sagten?« Diesen
Schwarzkopf –
Loris nennt ihn »
einen der besten und unangenehmsten Menschen« – betrachtet
Bahr als seinen Widersacher, und er haßt ihn aus tiefster Seele.
Wie sollte er auch einen solchen Menschen ertragen können, einen nüchternen Skeptiker,
der nur eine Sorge hat: sich an nichts zu verlieren, auf nichts hineinzufallen, weder
auf Gott noch auf die sogenannte Liebe, noch auf den Frühling, von dem sich die Leute
jedes Jahr aufs neue düpieren lassen, noch auf die Historie. Was gilt ihm ein Wahrheitsfanatiker,
dem sich jede lebendige Wahrheit entzieht, was soll ihm diese hochmütige Selbstbewahrung
ohne Impuls und ohne Auftrieb, was geht ihn dieser Mensch an, der unbewegt, wie mit
blinden Augen in eine entseelte Welt starrt, ein Wesen, in dem kein Bekennen ist und
keine Schuld, weil er nie hingerissen den ganzen Einsatz wagt?! So sehr ist
Bahr von Widerstand erfüllt, daß er aufbraust, als
Schnitzler die anständige Gesinnung
Schwarzkopfs rühmend hervorhebt. Wertlos sei diese feige blutarme Korrektheit; ein wahrer lebendiger
Mensch hätte tausendmal mehr recht, selbst wenn er einmal irre, als der mit seiner
platten Rechthaberei! . . . »
und wenn nächstens der
Burckhard was schlecht macht« – denn an dem Leiter des
Burgtheaters nörgelt
Schwarzkopf besonders herum wie an jeder echten Natur – »so lob’ ich ihn justament, das wirst
du sehen, nur um den
Schwarzkopf zu ärgern!« – »Und du willst ein Kritiker sein?« erwidert
Schnitzler. »Du begnügst dich eben damit, eine Individualität zu sein« – und nun wirft er ihm
alles vor, was er gegen ihn auf dem Herzen hat: seine Ungerechtigkeit, den Hang, die
Wahrheit unbedenklich jeder momentanen Stimmung, jeder Sympathie und Antipathie oder
einfach nur dem Rhythmus eines Satzes aufzuopfern.
Bahr gesteht ihm darauf hin zu, er sei von der ewigen Angst gequält, langweilig zu werden.
Diese Angst ist unbegründet, denn langweilig ist er wirklich nicht. Er sagt den Leuten
regelmäßig, was sie zu hören nicht geneigt sind, er schreibt in brillanten unkonventionellen
Wendungen, respektlos sarkastisch gegen alles anerkannt Ehrwürdige, enthusiastisch
von allem Ungewohnten. Aufstöbemd und unbequem ist er auf jeden Fall.
Im übrigen ist er ein hinreißender Redner; und man merkt, wie gerne er bei offiziellen
Gelegenheiten das Wort ergreift. Schon seine Art, sich zu erheben, die freie Haltung
seiner breiten Schultern, der behaglich-humorvolle Dialekt, in dem er anhebt, gewinnt
ihm freudige Zustimmung; und es ist viel mehr das Wie als das, was er sagt, womit
er Wärme, Sicherheit, gehobene Laune um sich verbreitet.
Er hat es später selbst gestanden: alles beweisen können und an nichts glauben – das
ist die sophistische Form, in der er zunächst der Welt gegenübersteht. Die Freude
am Bau des wohlgefügten Satzes verführt ihn. Das Wort in seiner Schnellkraft und in
seinem Glanz hat er mit gefährlicher Gewandtheit gebrauchen gelernt. Nur daß es ihn
allzu oft auf seine rauschenden Flügel nimmt und ihn in Gegenden versetzt, die er
sich nicht zum Ziel genommen, das kann passieren. Auch hat er längst herausgefunden,
daß es sich »
um recht zu behalten, keineswegs darum handelt, im Recht zu sein«. Vorläufig genügt es ihm, recht zu behalten. Das Ungenügen an der peripherischen
Wirkung des Wortes stellt sich erst allmählich ein. Langsam dämmert die Ahnung herauf,
daß das Wort etwas »
über allen Beweisen Wahres, eine wirkliche Wahrheit« zu verkünden hat. Aber dahin führt ein langer Weg. An seinem Beginn steht Eitelkeit,
an seinem Ende das Gewissen.
Im Jahre 1893 reist er in der Welt herum und befragt einige bedeutende, berühmte Männer über das
Wesen des eben heftig aufflammenden Antisemitismus. Erst ist er in
Deutschland bei
Theodor Mommsen; der nennt den
Antisemitismus die Gesinnung der Kanaille. Er spricht mit
Franzosen,
Engländern,
Spaniern über die Frage und erhält von
Henrik Ibsen die lakonische Auskunft, er könne über den Antisemitismus nichts sagen, weil die
ganze Bewegung ihm völlig unverständlich und unbegreiflich sei.
Im Jahre 1895 wagt es Direktor
Burckhard, »
Liebelei«, das volkstümliche Werk eines fast unbekannten Autors, zur Uraufführung im
Burgtheater anzunehmen.
Als erster Einfall hieß das Schauspiel »
Das arme Mädel« – und der Stoff hatte verschiedene Wandlungen und Fassungen durchlaufen; begonnen
im Spätherbst 1893, langsam reifend, bis die letzte endgültige Form im Oktober 1894 in zweiundzwanzig Tagen abgeschlossen wurde. Die Schrift der letzten Szenen zeigt
die Bewegtheit des Schreibenden. Er hat mir gestanden, daß er geweint hat.
Noch vor der Premiere liest
Bahr das Manuskript. Er stellt keine günstige
Prognose. Das Stück sei zwar literarisch sehr gut und bühnenwirksam, aber einen Kassenerfolg
werde es nicht erzielen. Die Kritik werde es loben, der ärgste Feind könne daran nichts
aussetzen, aber auch der enthusiastischeste Freund werde nicht sagen: ein Prophet
sei erstanden.
Die
Burgtheateraufführung brachte der »
Liebelei« den Erfolg, von dem es hieß, ihr Autor sei über Nacht berühmt geworden.
Bahr schreibt eine Kritik voll absichtlichen Widerstandes, spricht von der »
mehr feuilletonistischen als dramatischen Anmut . . . eine saubere, anständige und brave Arbeit«.
»
Passen S’ auf«, sagt er zu
Loris, »so wie
Schnitzler bisher ›der Dichter des süßen Mädels‹ war, so wird er jetzt den berühmten Dichter
posieren.«
»Eine Ihrer Negationen, von denen Sie schon zurückkommen werden«, entgegnet ihm
Loris, »denn jetzt ist er’s.«
Wenige Wochen darauf meldet
Bahr seinen Besuch bei
Schnitzler an. Nach allerlei Umwegen und Vorwänden des Gesprächs geht er auf das eigentliche
Thema los: er gebe es zu, sein Urteil schwanke
Schnitzler gegenüber, und gleich darauf, nach kurzer Überwindung, stößt er heraus: »
Ich weiß ja ganz gut, daß ich mich geirrt habe. Ich hab’ es auch dem
Burckhard schon vor deiner Premiere angekündigt: ich muß zwei Feuilletons über die ›
Liebelei‹ schreiben; eins, wenn sie durchfällt, wo ich dich justament riesig lob’, und eins,
wenn sie gefällt, in dem ich mich mit dir scharf auseinandersetze.«
Schnitzler lacht überwältigt: »Das nenn’ ich Sachlichkeit!«, während
Bahr lebhaft fortfährt: »Vergiß nicht, ich bin eine Propagandanatur. Ich muß die Dinge
korrigieren, wie sie mir in meinen Plan passen. Mir haben’s ja die Leute sofort gesagt,
daß uns dieses wenig ermutigende Feuilleton auf immer auseinander bringen wird. Aber
das schien mir unwahrscheinlich, denn ich kenne dich. Vielleicht« – und sein Blick gleitet zur Seite – »sind wir nur so niederträchtig gegeneinander, weil wir
der gleichen Generation angehören.«
Ende März 1896 ist
Schnitzler bei
Bahr: ein Krankenbesuch.
Bahr ist im Duell verwundet worden. Er hat sich an Stelle eines jüdischen
Herausgebers der Tageszeitung »
Die Zeit« geschlagen, der von irgendeinem provokatorischen
Subjekt herausgefordert worden war. Die Juden waren nämlich soeben von den wehrhaften deutschnationalen
Studenten für satisfaktionsunfähig erklärt worden, und nun dachten diese, ihre Beleidigungen
bei jeder Gelegenheit ungestraft austeilen zu dürfen. Diesem sogenannten Waidhofener
Beschluß begegnete
Bahr, der Sohn einer streng katholischen
Linzer Notarsfamilie, auf seine resolute Weise, indem er die Beleidigung auf sich nahm.
Erstaunlicher Vorfall:
Bahr ist also nicht nur der Verkünder oft zweifelhafter Werte – an die er bald gar nicht
mehr glaubt – er begibt sich selbst in Gefahr, wo es eine wahre menschliche Stellungnahme,
eine echte Gesinnung zu verfechten gilt. Zum erstenmal empfindet
Schnitzler wirkliche
Sympathie für ihn; von seinem Krankenlager fortgehend, überlegt er, ob er ihm nicht
doch manchmal Unrecht getan hat.
Nur langsam und zögernd entwickeln sich ihre Beziehungen, fast unmerkbar stellt ein
Kontakt sich her.
Bahr versucht als Redakteur der Wochenschrift »
Die Zeit« immer wieder,
Schnitzler als Mitarbeiter zu gewinnen. Im November 1897 liest er die Novelle »
Die Toten schweigen« öffentlich vor. Im November 1900 schreibt er in plötzlichem Impuls: »
Mit Dir nächstens einmal reden zu können verlangt mich sehr, um Dir zu sagen, wie
menschlich tief mich Deine ›
Beatrice‹ berührt hat: sie ist mir weitaus das Liebste was Du noch geschaffen und hat mich
völlig zu Dir hingerissen.«
Bald darauf ist
Schnitzlers Novelle »
Leutnant Gustl«, die er in der glücklichen Stimmung der
Reichenauer Sommerwochen 1900 geschrieben hatte, zu Weihnachten in der
Neuen Freien Presse erschienen. Ein denunziatorischer Artikel der Tageszeitung »
Die Reichswehr« macht militärische Kreise darauf aufmerksam, daß
Schnitzler in dieser
Novelle die Ehre und das Ansehen der Armee geschädigt und herabgesetzt habe. Eine ehrenrätliche
Untersuchung wird gegen ihn in Gang gesetzt,
Schnitzler wird aufgefordert, sich vor diesem Ehrenrat zu rechtfertigen. Er hat einen Freund,
der ihm zur Seite steht und dessen Ratschläge er befolgt:
Max Burckhard, jetzt Hofrat beim
Verwaltungsgerichtshof, widerrät seinem Freunde
Schnitzler auf das entschiedenste, der Vorladung Folge zu leisten und damit einer militärischen
Behörde irgendeine Kompetenz in literarischen Fragen zuzubilligen.
Der Sommer kommt – an einem heiteren Junimorgen sitzt
Schnitzler beim Frühstück auf einer
Salzburger Kaffeehausterrasse; eine
Wiener Zeitung öffnend, liest er erstaunt seinen Namen zu Beginn des Leitartikels. So erfährt
er, daß der Ehrenrat ihm sein Offizierspatent genommen und ihn degradiert hat. Was
nun folgt, ist eine Flut von Für und Wider in in- und ausländischen Zeitungen: »
Leutnant Gustl« wird abwechselnd »
das Schunderzeugnis dieses Juden« und »
ein Hauptbeweis dichterischer Genialität« genannt.
Schnitzler hat nun ausreichende Gelegenheit, über das Kapitel nachzudenken: Wie kommt ein Urteil
zustande?
Unter den vielen freundlichen Briefen, die kommen – auch von
österreichischen Offizieren sind welche darunter – ist einer von
Hermann Bahr:
»
Lieber
Arthur! Ich denke mir zwar, daß Du die lächerliche Entscheidung Deiner ›Affäre‹ mit der
ruhigen Verachtung hingenommen haben wirst, die sie verdient, möchte Dir aber doch
aussprechen, wie stark ich gerade bei diesem Anlaß meine Sympathie für Dich gespürt,
und wie ich mich geschämt habe, in einem so grenzenlos albernen Lande zu leben, wo
die Feigheit der Menschen beinahe noch größer ist als ihr Neid. Pfui Teufel! Und alles
Gerede von ›Kultur‹ und so weiter kommt mir unsagbar dumm vor. Herzlichst grüßt Dich
Dein alter
Hermann Bahr.«
Schnitzler dankt ihm mit Wärme: » . . .
laß mich bei dieser Gelegenheit auch einmal sagen, wie sehr es mich freut, daß wir
Beide über die zeitweiligen Entfremdungen hinaus sind, die ja wahrscheinlich bei manchen
Naturen, wie den unsern, entwicklungsphysiologisch bedingt und daher notwendig sind.
(Du siehst, ich bin immer ›wissenschaftlich.‹) Nun ist das Alter der Mißverständnisse
wohl endgültig für uns vorbei und wir sind so weit, daß wir einander – vielleicht
auch ein bischen um unserer Fehler willen – Freunde sein und bleiben dürfen.«
Zehn Jahr mußten vergehen, ehe dieser Ton gegenseitigen Einverständnisses zwischen
den beiden aufklingen konnte, die Zeit von dreißig bis vierzig, Mannesjahre voll rätselhaft-geheimer
Formung des eigenen Ich bis zu dem entscheidenden Schritt in die Gestaltung der Umwelt.
So verschieden ihre Naturen auf diese Umwelt reagieren mußten – eins war gemeinsam
in ihnen: ihre kritische Liebe zu
Wien. Nicht umsonst ist
Wien die Stadt der Musik – einer bestimmten Art des Musizierens. Wo es sich triebhaft
auflösen kann, dem sinnlich-schönen Klang schwelgerisch hingegeben, fortgeschwemmt
und bewußtlos gemacht in einer fast weiblichen Gebärde – da ist
Wien empfänglich und dankbar wie keine zweite Stadt der Welt. Reiz für den flüchtigen Augenblick,
Opiat gegen die matte Wirklichkeit, Zerstreuung an Stelle der Sammlung – so will Musik,
so will alle Kunst hier verstanden sein. Was ihr in dieser Stadt verwehrt ist: ihre
wahre Sendung – formendes Element zu sein, umbildender Griff in seelisch-geistiges
Gebiet. Weiter als ins Bereich der Emotionen darf sie nicht dringen – hier schlagen
Türen zu.
Nur in einer mittleren Sphäre will diese Stadt genießen und leben – und darin ist
sie meisterhaft ausbalanciert. Was darüber hinausweist, ins Göttliche oder Dämonische
reicht, erschreckt sie bis ins Mark. Was ist es, das sie fürchtet? Nicht aufwachen,
nicht innewerden, nicht klar sein! Das
Hebbel-Wort: »
Oh rühr nicht an den Schlaf der Welt« – nur in
Wien konnte es aufkeimen.
Mit müden Augen, die viel Wechselvolles gesehen haben, schaut diese Stadt den Lauf
der Zeiten – ihr ist nichts so gut und nichts so schlimm, als daß es nicht mit Gleichmut
ertragen werden könnte. Im schönen Augenblick das umflorte Wissen um seine Vergänglichkeit
– im Dulden das gelassene »was kannst machen?!« – das ist ihre Form von Widerstand;
das eigene Elend löst sich in Selbstironie, alles Pathos in Parodie auf, und die Skepsis
ist umglänzt von mildem Schimmer altersmüder Weisheit.
»
Ich fange an, je mehr ich meine Leidenschaft jetzt der Kultur unseres Vaterlandes
zuwende, immer mehr zu vermuten, daß für die Größe einer Zeit und die Schönheit ihrer
Menschen im Scheinen und im Sein die ›großen Werke‹ garnicht so wichtig sind, als
wir zuerst meinten, sondern daß wir lieber für unsere tägliche Umgebung sorgen sollten . . . Dies ist es, was wir zu tun haben: lasset uns den allgemeinen ästhetischen Wohlstand
unseres armen Landes vermehren . . .
wenn ich eine Neigung für einen Menschen oder eine Sache habe und nun erkenne, was
an ihm oder an ihr schlecht ist, meine ich doch: dann eben brauchen sie mich erst
recht. Unerbittlich findet mich nur, wer nach seinem Wesen besser sein könnte, als
er aus Dünkel, Schwäche oder Verlogenheit ist . . . «
Diese Worte
Bahrs zeigen den Antrieb seines Wesens, der ihn veranlaßt zu wecken, zu mahnen, zu wachen:
weil er fördern will. Und sagt die
Duse ihm einmal: »
Aber Sie! Sie sind doch gar kein Kritiker – Sie sind unser guter Kamerad!«, so macht ihn das stolz, denn das ist alles, was er sein will.
Am 15. Mai 1902, an seinem vierzigsten Geburtstag, erhält
Schnitzler einen wunderschönen Strauß Rosen und dazu diesen Brief: »
Du bist enttäuscht, lieber Arthur, da Du geöffnet hast und siehst, daß diese Blumen,
statt von einem Weibchen, nur von mir sind. Aber sie sollen Dir halt heute, wo Du
ankommst
nel mezzo del camin di nostra vita, einmal sagen, daß ich Dich sehr gern habe und über unser gut und fest gewordenes
Verhältnis froh bin und meine, es könne, was immer noch das Schicksal zwischen uns
werfen mag, doch eigentlich im Grunde niemals mehr wankend werden. Und mir ist, frühere
Dinge jetzt erst zu verstehen, und ich rede mir ein zu meinen, daß was ich einst gegen
Dich empfunden habe, vielleicht auch nur eine freundschaftliche Ungeduld gewesen sein
mag, den zu lange bei seiner Jugend Verweilenden schneller männlich werden zu sehen.
In meinem Verhältnis zur
Duse weiß ich jetzt ganz gewiß, daß die unbegreifliche Wut, die ich nach meiner ersten
Begeisterung plötzlich auf sie hatte, genau mit ihrer innern Krise zusammenfiel, aus
welcher sie verwandelt emporstieg. Wäre ich
d’Annunzio und würde ich stilisieren, so würde ich sagen: Ich bin der Ehrgeiz meiner Freunde . . . «
Am 17. August 1797 schrieb
Schiller an
Goethe:
Als ein Genius oder ein Gespenst müsse ihnen die Poesie gegenübertreten, setzt er
noch hinzu.
Und der ganz alte
Goethe spricht
Eckermann gegenüber aus, er sehe eine
barbarische Zeit heraufkommen. Denn was sei die Barbarei anderes, als daß die Leute
das Vortreffliche nicht anerkennen . . .
Nun, daß sie inkommodiert werden, sich ihrer platten Behaglichkeit nicht gar zu sehr
erfreuen dürfen, darüber wacht um die Wende des Jahrhunderts in
Wien Hermann Bahr. Die helle Wut packt ihn, wenn die Menge nichts anderes mehr sehen will als seichten
Zeitvertreib, Zerstreuung und Entspannung für matte Hirne sucht nach der Mühsal des
Erwerbs. Letzter und tiefster Ernst ist ihm die Kunst – der innerste heilige Raum,
in dem der Mensch sich selbst gegenübertritt und sich so rein begegnet, wie ihn die
Hand der Gottheit in die Welt gestellt hat. Er ist da angelangt, wo er vom Künstler wie von Empfangenden das gleiche
Verhalten dem Sittlichen gegenüber fordern muß. Ein Künstler kann, in seinem Sinn,
nur einer sein, der sich fähig fühlt, den Menschen Glück zu bringen, indem er ihnen
hilft, schöner und besser zu werden. »
Wenn nun aber das Verhältnis der Menschen zur Kunst so entartet ist, daß sie ganz
verlernt haben, das Kunstwerk auf sich selbst zu beziehen und es in ihr Sein und Tun
aufzunehmen, dann ist in solcher Zeit der Künstler um seine Kunst betrogen. Wenn das
Kunstwerk seinen eigentlichen Sinn, dem Leben ein Beispiel zu geben, verliert, dann
bleibt dem Künstler, eben um ein Künstler zu sein, nichts übrig, als dieses Beispiel
unmittelbar durch sein Leben zu geben. Denn dem Künstler ist sein Kunstwerk nur so
viel wert, wie davon im Sein und Tun der Menschen lebendig wird. Hat das Kunstwerk
in unserer Zeit diese Kraft nicht mehr, so wird sich der Künstler ein anderes Mittel
suchen müssen: die Rede von Mann zu Mann, die Wirkung durch seine lebendige Gegenwart
oder aber in seiner höchsten Not irgend eine die Menschheit aufschreckende Tat, wie
es Tolstois Flucht und sein erhabener Tod war.«
Wer Maßstäbe aufstellt, muß das Äußerste auch von sich selbst fordern. »
Sind wir nichts anderes, so sind wir doch ein Beispiel«, heißt es bei
Schnitzler.
Im »
Dialog vom Marsyas« kommt der Meister nach weitem Umweg auf das rechte Gleichgewicht der Dinge zwischen
Kunst und Leben. »
Am Ende kommt’s doch immer nur darauf an«, sagt er, »daß Einer wisse, welche Hitze
er vertragen kann.«
Goethe habe gewußt, daß ihn der tragische Grad zerstören würde. »
Darum hat er sich enthalten, instinktiv gewarnt, wie denn die Natur uns immer ein
Zeichen gibt, wenn sie sich bedroht fühlt. Ein solches Signal ist die Grimasse, die
den Menschen, das Volk verzerrt, wenn sie sich zu Werken oder Taten, welche ihnen
nicht gemäß sind, übernehmen wollen. Seht ihr ein Werk oder eine Tat um den Preis
der Grimasse erkauft, so ist es immer ein Zeichen, daß der Täter daran ist, sich zu
zerstören. Glaubt doch nicht, daß die Menschen die Schönheit lieben weil sie gefällt,
– sie ist mehr als eine Lust der Sinne. Sie ist unser höchstes Gesetz, denn sie ist
unser Maß, das zeigt, wie weit wir dürfen.«
Zu Beginn des Jahres 1903 erscheint
Bahr bei
Schnitzler, krank, aschgrau, gealtert aussehend – und wenige Tage darauf muß er sich einer Operation
unterziehen. Die Rekonvaleszenz ist schwerer, als die Ärzte annehmen konnten. Die »
Ochsennatur«, von der
Bahr selbst einmal in frühen Jahren sprach, hat diesmal ihren ersten schweren Stoß erlitten.
Ein Herz, das sich nie geschont hat, lautet die ärztliche Diagnose. Ein Mensch, der
sich immer unbedenklich an die Welt verschwendet, empfindet der Freund, der mit dem
Gefühl tiefster Sympathie am Bett des Kranken erschienen ist.
Obwohl noch schwach und müde zu Bett, schreibt
Bahr eine Art Rückblick über
Schnitzlers Entwicklung.
Dieser sei nach seinem ersten plötzlichen Erfolg in Gefahr gewesen, sich zur Manier
verführen zu lassen. Und er,
Bahr, habe diese Befürchtung damals ausgesprochen, gereizter und heftiger, als es notwendig
gewesen wäre, aber eigentlich doch in einer guten Gesinnung.
Schnitzler jedoch hätte ihn gar nicht gebraucht, »
denn in ihm ist jene wunderbare Ungeduld der ganz ehrlichen Menschen, die sich niemals
beruhigen, bei keinem Erfolge verweilen, sondern unerbittlich von sich das Höchste
zu fordern entschlossen sind«.
Es duldet ihn nicht lange, sich der Krankheit hinzugeben. Schon schlägt er wieder,
mit halb noch versagenden Kräften, nach allen Seiten aus. Das meiste, was jetzt rundherum
geschieht, ist dazu angetan, ihn aufzureizen und zu ärgern.
Zum erstenmal scheint
Bahr durch die Vergeblichkeit seines Kampfes entmutigt, und der Gedanke taucht in ihm
auf: fort von
Wien! »
Wunderschön drückt es Bettina aus, was ich so oft, aus der Stadt kommend, in meinen
Garten tretend, von den Menschen aufatmend fühle: Der tiefe Schauder, der mich schüttelt,
wenn ich eine Weile der Welt zugesehen habe, wenn ich dann hinter mich sehe in die
Einsamkeit und fühle, wie fremd mir alles ist.[Bettina von Arnim:] Goethe’s Briefwechsel
mit einem Kinde. Berlin: Ferdinand Dümmler1835, Zweiter Theil, S. 191.«
Aber er gibt nicht nach. Ende 1903 läßt er das kleine Buch »
Gegen Klimt« erscheinen – eine Sammlung der böswilligsten Kritiken über den bedeutenden Maler,
dessen Bilder »
Medizin« und »
Philosophie« nach einem Protestgeheul der Öffentlichkeit von der
Wiener Universität, für die sie gemalt waren, zurückgewiesen wurden.
Im
Herrenhaus hatte sich während einer Debatte über aktuelle Kunstfragen ein Graf
Montecuccoli erhoben, um gegen die »krankhaften Auswüchse« in der bildenden Kunst Stellung zu
nehmen, die sich namentlich in den Bildern von
Klimt zeigten. Das
Unterrichtsministerium sollte eine derartige Kunst in keiner Weise unterstützen, sondern alles aufbieten,
um diese Richtung einzudämmen.
Gegen
Mahler wird wieder einmal mit allen Mitteln gehetzt. Das Publikum der
Wiener Konzertsäle, seit jeher zunächst skeptisch, konservativ und jeder neuen Tonsprache
abgeneigt – seit
Brahms ist hier der allgemeinen Ansicht nach nichts Nennenswertes komponiert worden – ließ
es sich genügen,
Mahlers Opernaufführungen hervorragend zu finden; daß sich aber in seinen Werken eine tragisch
ringende Seele aussprach, das ging den Wienern zu weit. Und geringschätzig nennen
sie seine Symphonien, von der Kritik darin bestätigt, Kapellmeistermusik.
Zu den ersten, die in
Mahler nicht nur den großen Dirigenten, sondern auch den bedeutenden Komponisten erkennen
und verehren, gehörte
Schnitzler.
Er fehlt bei keiner Erstaufführung seiner Symphonien, die
Mahler selbst dirigiert; regelmäßig nimmt
Schnitzler im Hintergrund der zweiten oder dritten Loge des großen
Musikvereinssaales Platz, um gut zu sehen und zu hören, selbst aber möglichst unauffällig zu bleiben.
Zu persönlicher Bekanntschaft zwischen
Mahler und
Schnitzler hatte sich noch keine Gelegenheit gegeben. Aber es war
Mahler gewiß nicht unbekannt geblieben, welchen Bewunderer er in
Schnitzler hatte.
In der Pause eines seiner Konzerte tritt der
Sekretär der Gesellschaft der Musikfreunde in
Schnitzlers Loge: »Herr Doktor,
Mahler läßt Sie um ein paar Zigaretten bitten, er hat seine zuhause vergessen.« – Eine überraschende
und liebenswürdige Form erster Annäherung.
Eine kleine Abendgesellschaft bei
Mahlers Schwager, dem Geiger
Arnold Rosé bringt die beiden endlich
in Verbindung. Schon diese erste Begegnung hat
Schnitzler völlig gefangen genommen – es war ihm klar, in
Mahler einen der wenigen großen Menschen zu sehen, denen er je begegnet war, und eine tiefe,
fast schüchterne Liebe zu
Mahler hat ihn seither nie mehr verlassen.
Symbolisch für
Mahlers Grundstimmung erschien ihm der erste Satz der
dritten Symphonie – die Vision einer vorbeiflutenden Volksmenge, die sich marschierend einer unbedenklich
brutalen Lustigkeit hingibt, während er selbst, als einsamer Zuschauer am Rande stehend,
alle Stimmen tiefer Welterkenntnis und dämonisch aufgewühlter Melancholie übermächtig
aus sich hervorbrechen fühlt. Dieser Seelenverfassung wußte
Schnitzler sich im Innersten nah und verwandt, und aus mancher Stelle seines eigenen Werkes
tönt gleiche Sehnsucht, gleiches Wissen und gleiche Trauer.
Der Mensch ist verboten, sagt
Bahr; er meint: die Persönlichkeit. Sie war in
Österreich nie gern gesehen. Dem Beispiel seines Herrschers folgend, ist Einordnung geboten,
jedes Hervortreten scheint unziemlich. Lautlosigkeit, Zurückweichen, Umgehen wird
geübt, wo
Bahr weithin hörbare Auseinandersetzung, sichtbare Stellungnahme fordert. In wenigen Ländern
ist so viel Talent zu finden, das sich achtlos verspielt, namenloses Volkslied wird,
zu schönen Farben, Formen, Hausrat aufgeblüht, ohne viel Wesens aus sich zu machen.
Zu Ehren Gottes und der Heiligen sind seine Holzfiguren geschnitzt, blüht seine Malerei,
und kunstvoll feine Eisengitter drängen so leicht wie undurchdringlich den derben
Griff der Wirklichkeit von allen Hochaltären seiner Imagination zurück.
Die widerspruchsvolle Geste zwischen Hochmut und Bescheidenheit, die Selbstverständlichkeit
und Würde uralten Reichtums kommt überall zum Vorschein, bis in die kaiserliche Schlichtheit
von
Schönbrunn, das erst bei näherem Zusehen seine Pracht enthüllt.
Bahr hört prophetisch das ferne dumpfe Schüttern, das dieses
Österreich untergraben will.
»
Ich habe den Verdacht«, schreibt er, »als ob das Sein niemals, daß immer nur das Werden
schön sei!« Ein ewig werdend sich Wandelnder, vorwärts Flüchtender ist er selbst, untreu dem
Gestern, unstet im Heute und nur voll Sehnsucht nach dem Morgen. Das ist die Gebärde seines Landes nicht,
jenes
Österreich, das dämmernd ruht, in sich geschlossen, rund in sich zurückgebogen, willenlos seine
stummen Kräfte treibend, gelassen wie die Natur selbst und grausam achtlos auch wie
sie, wenn edle Frucht zugrunde geht.
Der heilige Zorn, die aufgereckte Faust, die dieser rebellierende Patriot herausfordern
will, sind seiner Heimat Geste nicht. Weltliche Macht ist nicht ihr letztes Ziel,
denn allen Glanz und Reichtum hat sie längst besessen, schon ausgekostet seine fragwürdige
Vergänglichkeit; in ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, ist
Österreich hineingeraten.
In diesem Gleichmaß des Beruhens und Beharrens meint freilich jeder zu ersticken,
der aus dem Willen und Bewußtsein lebt.
Und wo denn sonst als in dem immer gärend bewegten, stürmisch jungen, zukunftsträchtigen
Deutschland, kann
Bahr zu finden hoffen, wonach es ihn verlangt?! Aus früher Jugend schon berichtet er von
dieser Sehnsucht nach
Deutschland. Im Jahre 1883, als
Richard Wagner starb, hatte er im Trauerkommers der
Wiener Studentenschaft eine Rede zu halten; und die wirkte in ihrem Bekenntnis zu
Deutschland so stark, daß er schon vierzehn Tage später relegiert wurde. So ging er damals nach
einem Umweg wüster Rauf- und Saufzeit in
Czernowitz nach
Berlin.
Es kam der siebzigste Geburtstag
Bismarcks, und
Bahr sollte im Namen der deutschen Studentenschaft
Österreichs dem vergötterten Kanzler eine Rede überreichen.
Er wird zunächst gar nicht vorgelassen, man nimmt ihm die Adresse nur höflich dankend
ab, es bleibt ihm also vorläufig nichts übrig als seiner Wege zu gehen; aber er dringt
darauf, vom
Kanzler selbst empfangen zu werden. Einige Tage später wird er ins Palais beschieden, und
der
Fürst läßt ihm durch seinen Rat
von Rottenburg danken. Welche Enttäuschung! Und was muß er hören?
Bismarck freue sich, die
Wiener Studenten so gut deutschgesinnt zu wissen, sie könnten es aber nicht besser beweisen,
als wenn sie ihre ganze Kraft einsetzten, um
Österreich stark zu machen. Deutschland rechne auf diese Jugend, es brauche sie – aber in
Österreich. Ein mächtiges
Österreich sei
Deutschland unentbehrlich. Das alles war in kühlem Ton so gleichsam nebenhin gesagt.
Schweigsam und betreten saß nun der junge Mensch da; die kühnen Worte, mit denen er
erfüllt war, in sich verschließend. Und als er nur noch stammeln kann, ob seinen Kameraden
damit nicht doch ein zu großes Opfer zugemutet würde, sah ihn der Rat lächelnd an
und meinte: ob sie nicht alle ein viel größeres Opfer bringen müßten, um in das
Deutsche Reich aufgenommen zu werden, ob sie das überhaupt könnten und ob es, wenn sie es könnten,
nicht doch schade darum wäre. Welchen Vorteil das deutsche Wesen denn davon hätte,
wenn diese
österreichische Spielart daraus verschwände, diese Eigenart, die sich gerade im Zusammenleben mit
vielen andern Völkern entwickelt hat und nur darin zu erhalten wäre.
So sah des
Kanzlers Botschaft aus. Denn längst schon hatte seine Weisheit es erkannt: »
Wenn
Österreich nicht existierte, müßte man es erfinden.«
In manchen Wandlungen, in vielen »
Superlativen des Lebens« bewegt sich von nun an der Mann, dem »
mittlere Zustände unerträglich sind«. Ein Sozialist ist er in
Wien. In
Paris ein Bohemien, von den Problemen künstlerischer Form besessen. In
Spanien ein Bummler, der Freund von Stierkämpfern und Tänzerinnen, voll Hohn bei dem Gedanken,
daß er je
Kant und
Marx gelesen hat. In
Deutschland ein Vorleser neuester Dichtung auf Tournee – »
so bin ich in Nord und Süd für Deinen Ruhm besorgt«, schreibt er an
Schnitzler. Einmal für eine Weile Regisseur bei
Max Reinhardt. Ein Autor vielgespielter Stücke: »
Meine Lustspiele sollen den Leuten vorschwindeln, daß man über das Leben lachen kann.« Und wenn er auch in einem Brief an
Schnitzler in Berlin »
alles, fast alles ganz famos findet«, sieht er doch, was in Vergangenheit und Zukunft seine Geltung hat.
In
London ist er der Gesprächspartner
Bernard Shaws, den er zum
englischen Hermann Bahr ernennt. Endlich wieder in
Wien, wird er »
der große Nothelfer der
österreichischen Kunst«, wie er sich selbst bezeichnet, und als den überlegenen Meister seines »
Dialog vom Marsyas« muß man ihn erkennen.
Nur durch eine erbitterte Anrufung seiner innersten Instinkte hat er sich von der
österreichischen Vergangenheit
frei gemacht; ganz frei freilich erst, seit er mit dem Tod so vertraut ist, seit der
Tod wirklich sein bester Freund geworden ist, der einzige, den er sich wirklich noch
verdienen will . . . so schreibt er in einem Brief an
Schnitzler.
Sein bester Freund erst, seit er ihn, es ist wenige Monate her, in einem schweren
und harten Kampf niedergerungen hat. Von seinem
Wiener Arzt war er für zwei bis drei Monate in ein
Sanatorium am Bodensee geschickt worden. Es ist Januar, die Winternebel brauen trübselig über der toten
Landschaft, trostlos ist sein Zustand, die schwere Kur bringt ihn an den Rand des
Vergehens. Aber der
Anstaltsarzt versteift sich hartnäckig auf seine Heilmethode. Mit einem letzten Aufbäumen aller
Kraft beschließt der Kranke zu fliehen. Er gibt sich verloren. Aber wenn es das Ende
ist, dann nicht hier, nicht in dieser düsteren Fremde sterben! Er schleppt sich heimlich
aus der Umfriedung der
Anstalt, kommt mühselig bis an ein Wirtshaus, stürzt dort, da er zusammenzubrechen droht,
ein Glas Schnaps hinunter – nichts haben ihm die Ärzte so streng verboten wie Alkohol
– und erreicht seinen Zug. Auf dieser Reise, in diesen vielen Stunden der Heimfahrt
meint er zwanzigmal, nach Luft ringend, zu vergehen, und in solcher Not, ein Bettler,
übel zugerichtet, beginnt er zu beten, erstarkt im Gebet, befreit sich, indem er endlich,
endlich sich unterwirft, sich ergibt, sich lösen kann vom Druck und Krampf und Widerstand
der eigenen Natur – er lernt, sich zu überwinden, findet die Kraft »
dem Erhabenen selbstverzichtend Ja zu sagen« – und von da an, tief entspannt, ein neues Leben zu beginnen.
»
Aber über dies alles einmal mündlich in einer guten Stunde, denn es ist tief, ›
viel tiefer als der Tag gedacht‹,
Tristantief, wo es im zweiten Akt viel schöner zu finden ist als ich es je werde aussprechen
können«, schreibt er an
Schnitzler.
Gleichzeitig gesteht er, daß er sich mit einer gewissen törichten Leidenschaft, der er aber im Augenblick so viel unsagbares Glück verdanke, wie er es nie
im Leben gekannt, aufs Hören von Musik geworfen habe – »
vielleicht wird man so transparenter Seligkeiten erst im Angesicht des Todes fähig« – wovon er dann manchmal in einer Ermattung mit vollständigem Versagen und Versiegen
jeder Kraft zurückbleibt. Was ist geschehen? Im Dunkel des
Opernparketts sieht man seinen mächtigen Kopf jetzt häufig auftauchen, an allen jenen
Wagner-Abenden, die
Mahler dirigiert, in denen
Anna von Mildenburg die
Isolde, die
Walküre, die
Ortrud ist, die große Sängerin, wie eine Sybille des
Michelangelo, mit einer Stimme, die gleich einem dunklen Raubvogel in den Lüften schwebt. Ein
überlebensgroßes Maß der Gestaltung, gepaart mit dieser dämonischen Stimme, gibt ihren
Figuren die Wirkung, wie sie von der antiken Tragödie zu denken ist – und ruft den
schon Weltverlorenen zurück von Grenzen gefährlicher Todesnähe. Und obwohl er »
äußerlich in einem rechten Durcheinander lebt, das er nicht ändern kann und nicht
ändern möchte«, gibt ihm die persönliche Begegnung mit der bedeutenden Frau ein Gefühl frohester
innerer Genesung, und der bis dahin in tiefer Einsamkeit gelebt hat, sieht sich endlich
dem einzigen Wesen gegenüber, das ihn je aufzuschließen imstande war und dem er sich
für immer verbindet.
Die tiefste Erfahrung, die Menschen zwischen Werden und Vergehen durchzumachen haben
– der unlösbare Rest von Fremdheit auf dem Grunde aller Beziehungen – ist das ewige
Problem der Freunde. Segen und Schauer der Einsamkeit, das leidenschaftliche Sehnen,
sich losgebunden zu verströmen in die Welt und doch wieder Rückstoß und Flucht ins
eigene Innere, dies ist der Kreislauf, der die Mitte ihres geistigen Erlebens wie
ein Zauberring umschließt.
Voll Staunen, wie nach unerreichbar ferner Sphäre, sieht
Claudio, der Tor, hinüber zu jenen, die im Tale wohnen.
Hier ist ein Wissen um die Grenzen aller menschlichen Beziehung, eine Erkenntnis,
die sich auf leichtem Flügel über Abgründe voll tiefer Trauer weghebt. Eine Täuschung,
ein Verkennen der Distanz von Seele zu Seele ist nicht mehr möglich. Das Gespräch,
schönste Bestätigung aller Nähe, ist eine schwankende Brücke geworden, auf der Begegnung,
Aug in Aug und Brust an Brust, selten ist wie jedes Wunder, selten glückhafter Moment
bleiben muß, sollen die Dinge nicht entweiht, nicht ihrer tiefsten Kraft beraubt werden.
Gespräch ist Anlaß zur Selbsterläuterung geworden, ein Monolog zu zweit – fragwürdig,
was noch hinüberdringt, auch unter diesen Meistern des Wortes. Was hört der andere?
Was rührt ihn an?
»
Und daß wir von einander nicht gar zu viel wissen und immer ein Jeder, wie ein Neuer
aus seinem Leben hervortritt und wieder hineingeht, ist sehr schön.« (
Loris in einem Brief an
Schnitzler.)
Bahr gesteht, wieviel ihm »
Der einsame Weg« in seinen Hauptgestalten und ihrem Erleben ist; am meisten berührt ihn die Figur
des
Julian Fichtner, in welchem er unheimlich viel von sich selbst findet. Ja, so sehr fühlt er sich
mit ihm verwandt, daß er den Wunsch verspürt, ihn auf irgendeiner
Bühne selbst darzustellen. Und was von
Julian Fichtners Bildern gesagt wird, bezieht er auf sich selbst. »
Meine Sachen ließen sich kritisch garnicht besser bezeichnen als damit, daß ich mich
leider auch in ihnen sozusagen nur vorübergehend aufhielt.« (Brief an
Schnitzler.)
Und ist er nicht auch wirklich von Anbeginn jenem
Julian gleich gewesen, der jeder Fessel entläuft, »
als läge dort hinter jenen Hügeln die Zukunft, schimmernd von Glanz und Abenteuern
– und wartete auf ihn«? Ist nicht auch in ihm »
jene ungeheure Angst, die Angst, das Leben zu versäumen, das Einzige, das Höchste«, die ihm auch
Schnitzlers »
Der Ruf des Lebens« auszudrücken scheint? Noch nie, so empfindet er, ist
Schnitzler so tief in das Gemüt seiner Generation, in ihre letzte Sehnsucht eingedrungen wie
in diesem Werk. »
Du wirst sehen«, schreibt
Bahr, als er von einem eben beendeten
Werk spricht, »daß mir dies, gerade dies und eigentlich nur dies allein unser eigentliches
Problem scheint, von dem mir alle anderen unserer Forderungen oder Fragen nur Abwandlungen
oder Variationen scheinen.«
Wie aus einer gemeinsamen Wurzel entstanden, bricht dieses Thema in den Dichtungen
der Freunde auf: die ungeheure Angst, das Leben zu versäumen. Von daher stammt die
Liebe zur Gestalt des Abenteurers, die Neigung, den von allen Bindungen gelösten Menschen
an letzte Grenzen seelischer Spannung zu setzen, sein Inneres in Drang und Druck hinaufzutreiben
bis in tollste Wirbel der Gefahr.
Nacht, Rausch und Traum am Rande der Vernichtung – die Stadt Bologna, vom mächtigen
Feind belagert, vor ihrem letzten Ausfall – das
blutgierig lauernde Volk von Paris, wenige Stunden vor der Erstürmung der Bastille – das
Traben der Rosse, immer nur das Traben des todgeweihten Regiments vor den Fenstern
des sehnsüchtigen Mädchens, das verzweifelt den Geliebten unter den Todgeweihten und
sich selbst an einen bösen alten Vater gefesselt weiß – das sind die Situationen in
Schnitzlers Dichtung, die Hintergründe, vor denen Sieg oder Unterliegen des lockenden Lebens
sich entscheiden. Der Abenteurer
Hofmannsthals im tänzerisch leichten Spiel um Gold und Genuß – gejagt von seiner Gier und selber
ihre Beute – ein Gleiten, und er weiß: der nächste Schritt heißt Tod. Ein Klopfen
an der Tür, und er schreit auf: »
So ist’s der Messer Grande und mein Tod!« – zu jeder Zeit des Äußersten gewärtig. Der Gegenspieler Tod ist überall, an jedem
Wegrand lauert er, den Preis zu fordern. Läßt das Bewußtsein seiner Gegenwart nicht
alle Farben feuriger aufglühen, den schönen Augenblick nur um so süßer auf der Zunge
schmelzen, weil es der letzte gewesen sein kann?
Die Fülle . . . Es ausschlürfen können, bis es alle seine Süße hergegeben hat, wie eine üppig reife
Traube, die trunken macht – das allein kann mit dem Tod versöhnen. Nichts versäumt
haben, nicht alle tiefste Lust und nicht die herbste Qual, das ist es, was auf alle
Straßen treibt, das läßt die Begierde nicht ruhen – und wie sehr ist sie der Neugierde
schwesterlich verwandt – das ist die Fanfare auf der Jagd nach dem nie erhörten Erlebnis
– und um wie viel mehr ist es das Lauschen nach dem Echo, das durch die eigene Seele
zieht, der Nachklang aus dem weiten Land der Seele, darin so vieles Raum hat: Liebe
und Treulosigkeit, Leidenschaft und Kälte, Wahrheitstrieb und Lüge, alles Hohe und
Niedere dicht beieinander, sonderbar gekoppelt.
»
Der Mensch ist weit, allzu weit, man sollte ihn enger machen«, dies Wort des
Dmitrij Karamasow stößt
Bahr zu einer Zeit blitzhaft entgegen, da es ihn schon gemahnt, »aus der Unendlichkeit
der Welt in bergende Enge« zu flüchten. Maß und Bändigung kommen spät, und meistens sind es Frauen, die das Wort der Selbstbegrenzung
aussprechen.
Der weise sternenkundige
Erasmus aus
Schnitzlers »
Hirtenflöte« heißt seine Frau
Dionysia willkommen, als sie aus tausend Abenteuern heimkehrt. »
Du hast dein Leben gelebt, Dionysia. Reiner stehst du vor mir als alle jene andern,
die im trüben Dunst ihrer Wünsche atmen. Du weißt, wer du bist« Doch sie entgegnet: »
Ich weiß, wer ich bin? So wenig weiß ich’s, als da du mich entließest. In der Beschränkung,
die du mir zuerst bereitet, und wo alles Pflicht wurde, war mir versagt, mich zu finden.
Im Grenzenlosen, wohin du mich sandtest, und wo alles Lockung war, mußte ich mich
verlieren. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ein Weiser du? Und hast nicht erkannt, daß
jedem menschlichen Dasein nur ein schmaler Strich gegönnt ist, sein Dasein zu erfüllen?«
Das also war’s? Ist es nur darum gegangen? Auf der Spur des eigenen Ich ist der Mensch
rund um die Welt gelaufen. »
Wo ist Wahrheit?« fragt
Bahr, als er, erschüttert die Unsicherheit des Ich entdeckend, vom
unrettbaren Ich spricht. »
An Stelle des Constanten und Absoluten tritt das fließende wechselnde Spiegelbild
der eigenen Einbildungskraft . . .
Da werden wir erkennen, daß das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern
die Illusion . . . « – und sich zusammenfassend, wie vor einem Meer von Ungewißheit, das ihn zu überfluten droht: »
Für mich gilt nicht, was wahr ist, sondern was ich brauche!«
Und doch kommt für ihn auch ein Tag, an dem ein Schauder ihn ergreift vor so viel
Freiheit. Zu oft hat er sich seines Selbst entäußert, und endlich steigt ein Sehnen
auf – vielleicht ist’s heimliche Erinnerung aus früher dumpfer Kindheit, da eine sanfte
Hand die seinen zum Gebet faltete – ein dunkles Ahnen, das Schutz sucht, Maß will,
Sicherheit und unumstößliche Instanz. Endlich erkennt er, daß Bei-sich-angelangt-sein
auch schon Auf-sich-verzichten heißt, zugunsten eines Höheren.
»
Das Erhabene«, sagt er, »dem man sich nur dienend naht.« – Der Unband, der ruhelos sich Wandelnde, steht schließlich doch vor Endergebnissen;
und ein
Nietzsche-Wort hat ihm den Star gestochen: »
Denn ›autonom‹ und ›sittlich‹ schließt sich aus.« – Nun heißt es wählen; und da Befreiung nur im Erkennen des Absoluten und Konstanten,
nur im Bereich des Sittlichen zu finden ist, kann er auf »autonom« verzichten.
Wir sehen ihn in
Salzburg, im Sommer 1920. Draußen vor der Stadt wohnt er jetzt, im
Schlößchen Arenberg. Er lebt inmitten seiner vielen Bücher – ein mächtiger Leser, schreibt sein Tagebuch,
ruhig und voll heiterem Wissen, unangefochten von der Welt, die ihn so lang gefangen
hielt.
Man sieht ihn durch die sonnbeglänzten alten Straßen gehen, in der bequemen Tracht
des Landes, mit nackten Knien, die Gestalt ist sehnig, voll vitaler Kraft, Haar und
Bart sind weiß geworden. Die Leute sehen ihm freundlich zwinkernd nach und sagen:
Der liebe Gott. Sie sagen auch, daß er am frühen Morgen in der Messe betend auf den
Knien zu finden ist.
Nur schauen am hellen Tag zwei sehr verschmitzte Augen aus dieser Gottvatermaske in
die Welt. Er plaudert, er erzählt, wie er sich selbst kuriert. Seit beinah zwanzig
Jahren tut er genau das, was ihm der Arzt verboten hat. Er raucht, er ißt kein Fleisch,
er steigt an jedem Morgen auf irgendeinen hohen Berg. Ganz langsam, systematisch atmend,
ein Training für sein Herz. Meist nimmt er sich Gesellschaft mit, der liebste und
klügste Gesprächspartner ist ihm
Stefan Zweig. Und kommt im Steigen eine steile Stelle, wo er nicht reden will – nun muß man seine
Augen lustig blinzeln sehen – sagt er absichtlich etwas Provozierendes, »wirft ein
Hölzel«, das den andern in Harnisch bringen muß, und ist die steile Stelle mit Keuchen
für den eifrig sprechenden Begleiter überwunden, fühlt er sich um so besser ausgeruht
und kann nun wieder weiterreden. Gottvater lacht . . . Nein, es scheint, es war doch wieder nicht der rechte, es war doch wieder der alte
Hermann Bahr, der hier vorüberging.
Im Winter 1921:
Salzburg im Schnee. So stumm und einsam sind die Tage, so schweigend lebe ich, wie von mir
selber losgelöst, in dieser Stille. Billets kommen, in der winzigen schönen Schrift
Hermann Bahrs: »Darf ich Sie zu einem Spaziergang holen?« Mit dem Glockenschlag erscheint er, ist
ritterlich, charmant und führt mich jedesmal zwei Stunden lang auf schneeglitzernden,
schimmernden Wegen durch die Landschaft, in einem nie stockenden Gespräch, voll Ernst
und voll Humor, so zart und so voll Weisheit, als ob er eine Krise, eine Hilfsbedürftigkeit
verspürte. Güte? Ja, es war große Güte. Es sei ihm nicht vergessen.
Sein eigenes Problem streifend: »
sich aus allzu großer Weite in eine welterfüllte Enge zurückzuziehen«, streift er einmal zugleich auch das der Habsburger, »
des adeligsten Hauses der abendländischen Geschichte«:
Dieser Sinn ist: Heimkehr. – »
Nach dem Gesetz, nach dem du angetreten . . . « – Wieviele Phasen er durchlaufen haben mag, er ist geworden, was er von Anbeginn
gewesen, er ist, was er so hart bekämpft: ein österreichischer Mensch mit allen seinen
Schichten, seinen Widersprüchen, im Kampf mit seiner weitläufigen Natur,
Peer Gynt aus
Oberösterreich, der seinen Ruhepunkt erst im Dämmerlicht der Kirche findet.
Löst es sich nun auf in Weihrauchwolken und Engelchören, dies reich bewegte Leben
voll Aufruhr und Ketzerei? Wir hören es nicht mehr. Was wir noch hören, ist ein weher
Ton.
Aus
Deutschland, dem einst so ersehnten, aus seinem letzten Wohnort
München, wohin es ihn verschlagen hat – damit sein
österreichisches Schicksal sich ganz rein erfülle – schreibt er im Jahre 1930, drei Jahre ehe er stirbt, an
Schnitzler: »
In Bereitschaft sein ist alles! – Nun, ich bin bereit, aber es ist nicht angenehm . . Sag’s nicht weiter, wenn ich Dir gestehe, daß von Jahr zu Jahr mein Heimweh nach
Wien wächst, fast so stark wie das meiner
Frau . . . Aber
Wien ist vergeßlich, und so werden wir wohl in der Verbannung sterben . . . «
Hatte
Schnitzler damals ebenso das Gefühl, daß sein Vaterland in nichts zerrann? Nein; denn ihm bedeutete
– bei aller Ahnung drohenden Unheils – der Lauf der Geschichte einen kontinuierlichen
Vorgang ohne Zäsur und ohne Aktschluß, Heimat eine unwandelbare Gegebenheit. Und jenseits
von aller Politik fing ihm das Denken, das Wirken und das Leben an.
Hat er sein Werk für die Welt oder gegen die Welt geschaffen? – Über der Welt, wie
jeder Künstler.
Das Schicksal
Österreichs? Gewiß, es hat sein Werk bedingt, geformt, sein Leben leicht und schwer gemacht,
er war darein verwoben – es war sein. Aber was ist Schicksal?
»Nicht, was einem Menschen von außen zustößt, sondern was Einer von der Welt appercipiert,
das ist sein Schicksal.«
Mit diesen Worten, gesprochen einst von
Friedrich Gundolf unter dem nächtlichen Himmel
Venedigs – es schwang sich befreiend auf bis unter die schwebenden Sterne – will ich von
Hermann
Bahr Abschied nehmen.