Olga Schnitzler: Spiegelbild der Freundschaft, 4. Kapitel, 1962

»Auf Entwicklung kommt es an.«
Rahel Varnhagen

IV

Hermann Bahr

Im Frühling 1891 lernt Schnitzler einen eben erst in Wien aufgetauchten ungefähr gleichaltrigen jungen Schriftsteller kennen: Hermann Bahr. Man hört von ihm, daß er vor nunmehr acht Jahren nach einer allzu deutsch-national gefärbten Rede, gehalten vor etwa dreitausend ihm zujubelnden Studenten, von der Wiener Universität relegiert worden ist, worauf er sich in Berlin, Paris, Spanien, Gott weiß wo noch, herumgetrieben hatte. Auf Schnitzler wirkt er zunächst als »ein liebenswürdig freier Mensch, im Gesicht Rohheit, Güte, Geist, Schwindelhaftigkeit«. Bahr spricht entzückt über Schnitzlers Drama »Das Märchen«, das Emanuel Reicher, Brahms stärkster Schauspieler, ihm in einem Linzer Hotelzimmer vordeklamiert hat; und sofort plant er eine Aufführung. Noch vor der Bekanntschaft mit diesem Werk und seinem Autor hatte Bahr in der Zeitschrift »Die Moderne Kunst« geschrieben: »Arthur Schnitzler, ein geistreicher, zierlicher, sehr amüsanter Causeur, ein bischen leichtsinnig in der Form, und nicht allzu gewissenhaft – vielerlei versuchend. Ich habe das Gefühl, daß er tiefer ist als er sich gerne gibt und hinter seiner flotten Grazie schwere Leidenschaft verbirgt, die nur noch schüchtern und schamhaft ist, weil sie erst zu festen Gestalten reifen will.«
Seiner Ansicht nach hätten die jungen Österreicher mehr Talent als die Deutschen – ihm sei zum Beispiel Schnitzler lieber als Hauptmann – aber die Berliner setzten sich gegenseitig in Szene, während die Wiener aufeinander schimpften. Am Nichterkanntwerden gingen die Österreicher zugrunde. Nicht allein das; sie bewunderten nur, was aus der Fremde kommt, vor ihrer eigenen Art hätten sie keinen Respekt.
Gewiß, Bahr wirkt sofort ermutigend; aber warum muß er, der seine Erlebnisse und Ideen oft so lebendig zu formulieren versteht, neben einer Menge von unmittelbar gesehenen Dingen so viel Schiefes sagen? Seine paradoxen Bemerkungen bringt er plötzlich vor, wie um seine Zuhörer absichtlich zu reizen, wobei seine funkelnden Augen spöttisch blinzeln, sein Linzer Dialekt von noch mehr Zischlauten durchsetzt ist als gewöhnlich. Begegnungen voll schwankender Sympathie . . . denn Schnitzler verhehlt es durchaus nicht, daß Bahr ihn zuweilen ungeduldig macht.
Eines Abends, in lustiger Gesellschaft, wird allgemein Bruderschaft getrunken; und Schnitzler, sonst immer auf gemessene Entfernung bedacht, kann sich dies eine Mal nicht entziehen. Das war wohl die Ursache, daß er in späteren Jahren jedes freundliche Angebot auf Bruderschaft immer wieder mit der Bemerkung ablehnte, er sei nur eines Menschen Duzbruder geworden, und den hätte er zu jener Zeit nicht leiden können. Und wirklich: im Kreis der Freunde ist es in all den vielen Jahren nie mehr zu solcher Verletzung der Distanz gekommen. Nichts ist ihrer mißtrauischen Empfindlichkeit so zuwider wie die fälschende Allüre der Nähe, die sich mit Anblinzeln, Zuruf, Schulterklopfen anbiedern will, während darunter ein ganzer Abgrund von Beziehungslosigkeit gähnt. Die öde Kumpanei im Kreis von Zufallspartnern kann ihnen nicht mehr Vortäuschen als sie ist, und echtes Einverständnis stellt sich am ehesten auf der soliden Basis bewußter Einsamkeit her. Vollends dieser Bahr: nachdem er stundenlang seine glänzende ironische mutwillige Beredsamkeit entfaltet hat, steht er auf, geht weg, nimmt sich so leicht und restlos zurück, daß man nie recht weiß, wozu er wirklich steht, woran er hängt, wo er wurzelt.
Es ist auch wenig Verlaß auf seine kritischen Maßstäbe. Sein Temperament, dem Wogen eigener Gedanken und Empfindungen preisgegeben, scheint von jedem neuen Eindruck wahllos hingerissen. Einen harmlosen Dilettanten, der gleich unbeträchtlich malt, dichtet und komponiert, nennt er »den verschwenderischen Meister dreier Künste« – jeder sich neu gebärdenden Erscheinung geht er mit Fanfarenstößen voran.
Einmal betritt er gemeinsam mit Schnitzler und Beer-Hofmann den großen Saal des Künstlerhauses. Von weitem bemerkt Schnitzler ein Bild, das zunächst durch seine grellen blaugrünen Farben auffällt. »Das wird dem Bahr sicher gefallen«, sagt Schnitzler zu Beer-Hofmann. Und wirklich, schon ist Hermann Bahr auf dieses Bild zugegangen, und davor stehend sagt er mit dem herausfordernden Ton, den er immer hat, wenn er etwas Neuartiges durchsetzen will: »Also das ist das Bedeutendste, was seit zehn Jahren gemalt worden ist.«
Damit schien seine eigene Einstellung weit mehr als das Bild charakterisiert, denn auf jeden Fall war er in revolutionärem Widersprach zum Althergebrachten zu finden, immer in der fechterischen Stellung des Raufbolds, und das bis zu einem Ausmaß, mit dem er nicht nur seine konservativen Leser verblüfft, sondern auch seine Freunde ärgert und reizt.
»Die Schmetterlingsschlacht« von Hermann Sudermann, dem erfolgreichsten Theatraliker seiner Zeit, wird im Burgtheater zum erstenmal aufgeführt – den Freunden erscheint sie als ein schwaches Stück. Nur Bahr – in welche Regionen mochte ihn seine eigene Phantasie, seine innere Erlebniskraft an jenem Abend getragen haben! – lobt »Die Schmetterlingsschlacht« über die Maßen, zieht sie allen Stücken der letzten Jahre vor und erklärt, man gehe mit einer philosophischen Heiterkeit heim, die keinen Groll mehr gegen die Welt erlaubt und Mut gibt, das Leben zu bestehen. Erbittert über so viel Unverhältnismäßigkeit sagt ihm Gustav Schwarzkopf, einer aus dem Kreis der Freunde, den man wegen seiner unbestechlich-klugen Urteile schätzt, in seinem suffisanten Ton: »Woher nähmen Sie denn das Material zu Ihren Kritiken, wenn Sie nicht das genaue Gegenteil von allen andern sagten?« Diesen SchwarzkopfLoris nennt ihn »einen der besten und unangenehmsten Menschen« – betrachtet Bahr als seinen Widersacher, und er haßt ihn aus tiefster Seele.
Wie sollte er auch einen solchen Menschen ertragen können, einen nüchternen Skeptiker, der nur eine Sorge hat: sich an nichts zu verlieren, auf nichts hineinzufallen, weder auf Gott noch auf die sogenannte Liebe, noch auf den Frühling, von dem sich die Leute jedes Jahr aufs neue düpieren lassen, noch auf die Historie. Was gilt ihm ein Wahrheitsfanatiker, dem sich jede lebendige Wahrheit entzieht, was soll ihm diese hochmütige Selbstbewahrung ohne Impuls und ohne Auftrieb, was geht ihn dieser Mensch an, der unbewegt, wie mit blinden Augen in eine entseelte Welt starrt, ein Wesen, in dem kein Bekennen ist und keine Schuld, weil er nie hingerissen den ganzen Einsatz wagt?! So sehr ist Bahr von Widerstand erfüllt, daß er aufbraust, als Schnitzler die anständige Gesinnung Schwarzkopfs rühmend hervorhebt. Wertlos sei diese feige blutarme Korrektheit; ein wahrer lebendiger Mensch hätte tausendmal mehr recht, selbst wenn er einmal irre, als der mit seiner platten Rechthaberei! . . . »und wenn nächstens der Burckhard was schlecht macht« – denn an dem Leiter des Burgtheaters nörgelt Schwarzkopf besonders herum wie an jeder echten Natur – »so lob’ ich ihn justament, das wirst du sehen, nur um den Schwarzkopf zu ärgern!« – »Und du willst ein Kritiker sein?« erwidert Schnitzler. »Du begnügst dich eben damit, eine Individualität zu sein« – und nun wirft er ihm alles vor, was er gegen ihn auf dem Herzen hat: seine Ungerechtigkeit, den Hang, die Wahrheit unbedenklich jeder momentanen Stimmung, jeder Sympathie und Antipathie oder einfach nur dem Rhythmus eines Satzes aufzuopfern. Bahr gesteht ihm darauf hin zu, er sei von der ewigen Angst gequält, langweilig zu werden.
Diese Angst ist unbegründet, denn langweilig ist er wirklich nicht. Er sagt den Leuten regelmäßig, was sie zu hören nicht geneigt sind, er schreibt in brillanten unkonventionellen Wendungen, respektlos sarkastisch gegen alles anerkannt Ehrwürdige, enthusiastisch von allem Ungewohnten. Aufstöbemd und unbequem ist er auf jeden Fall.
Im übrigen ist er ein hinreißender Redner; und man merkt, wie gerne er bei offiziellen Gelegenheiten das Wort ergreift. Schon seine Art, sich zu erheben, die freie Haltung seiner breiten Schultern, der behaglich-humorvolle Dialekt, in dem er anhebt, gewinnt ihm freudige Zustimmung; und es ist viel mehr das Wie als das, was er sagt, womit er Wärme, Sicherheit, gehobene Laune um sich verbreitet.
Er hat es später selbst gestanden: alles beweisen können und an nichts glauben – das ist die sophistische Form, in der er zunächst der Welt gegenübersteht. Die Freude am Bau des wohlgefügten Satzes verführt ihn. Das Wort in seiner Schnellkraft und in seinem Glanz hat er mit gefährlicher Gewandtheit gebrauchen gelernt. Nur daß es ihn allzu oft auf seine rauschenden Flügel nimmt und ihn in Gegenden versetzt, die er sich nicht zum Ziel genommen, das kann passieren. Auch hat er längst herausgefunden, daß es sich »um recht zu behalten, keineswegs darum handelt, im Recht zu sein«. Vorläufig genügt es ihm, recht zu behalten. Das Ungenügen an der peripherischen Wirkung des Wortes stellt sich erst allmählich ein. Langsam dämmert die Ahnung herauf, daß das Wort etwas »über allen Beweisen Wahres, eine wirkliche Wahrheit« zu verkünden hat. Aber dahin führt ein langer Weg. An seinem Beginn steht Eitelkeit, an seinem Ende das Gewissen.
Im Jahre 1893 reist er in der Welt herum und befragt einige bedeutende, berühmte Männer über das Wesen des eben heftig aufflammenden Antisemitismus. Erst ist er in Deutschland bei Theodor Mommsen; der nennt den Antisemitismus die Gesinnung der Kanaille. Er spricht mit Franzosen, Engländern, Spaniern über die Frage und erhält von Henrik Ibsen die lakonische Auskunft, er könne über den Antisemitismus nichts sagen, weil die ganze Bewegung ihm völlig unverständlich und unbegreiflich sei.
Im Jahre 1895 wagt es Direktor Burckhard, »Liebelei«, das volkstümliche Werk eines fast unbekannten Autors, zur Uraufführung im Burgtheater anzunehmen.
Als erster Einfall hieß das Schauspiel »Das arme Mädel« – und der Stoff hatte verschiedene Wandlungen und Fassungen durchlaufen; begonnen im Spätherbst 1893, langsam reifend, bis die letzte endgültige Form im Oktober 1894 in zweiundzwanzig Tagen abgeschlossen wurde. Die Schrift der letzten Szenen zeigt die Bewegtheit des Schreibenden. Er hat mir gestanden, daß er geweint hat.
Noch vor der Premiere liest Bahr das Manuskript. Er stellt keine günstige Prognose. Das Stück sei zwar literarisch sehr gut und bühnenwirksam, aber einen Kassenerfolg werde es nicht erzielen. Die Kritik werde es loben, der ärgste Feind könne daran nichts aussetzen, aber auch der enthusiastischeste Freund werde nicht sagen: ein Prophet sei erstanden.
Die Burgtheateraufführung brachte der »Liebelei« den Erfolg, von dem es hieß, ihr Autor sei über Nacht berühmt geworden. Bahr schreibt eine Kritik voll absichtlichen Widerstandes, spricht von der »mehr feuilletonistischen als dramatischen Anmut . . . eine saubere, anständige und brave Arbeit«.
»Passen S’ auf«, sagt er zu Loris, »so wie Schnitzler bisher ›der Dichter des süßen Mädels‹ war, so wird er jetzt den berühmten Dichter posieren.«
»Eine Ihrer Negationen, von denen Sie schon zurückkommen werden«, entgegnet ihm Loris, »denn jetzt ist er’s.«
Wenige Wochen darauf meldet Bahr seinen Besuch bei Schnitzler an. Nach allerlei Umwegen und Vorwänden des Gesprächs geht er auf das eigentliche Thema los: er gebe es zu, sein Urteil schwanke Schnitzler gegenüber, und gleich darauf, nach kurzer Überwindung, stößt er heraus: »Ich weiß ja ganz gut, daß ich mich geirrt habe. Ich hab’ es auch dem Burckhard schon vor deiner Premiere angekündigt: ich muß zwei Feuilletons über die ›Liebelei‹ schreiben; eins, wenn sie durchfällt, wo ich dich justament riesig lob’, und eins, wenn sie gefällt, in dem ich mich mit dir scharf auseinandersetze.«
Schnitzler lacht überwältigt: »Das nenn’ ich Sachlichkeit!«, während Bahr lebhaft fortfährt: »Vergiß nicht, ich bin eine Propagandanatur. Ich muß die Dinge korrigieren, wie sie mir in meinen Plan passen. Mir haben’s ja die Leute sofort gesagt, daß uns dieses wenig ermutigende Feuilleton auf immer auseinander bringen wird. Aber das schien mir unwahrscheinlich, denn ich kenne dich. Vielleicht« – und sein Blick gleitet zur Seite – »sind wir nur so niederträchtig gegeneinander, weil wir der gleichen Generation angehören.«
Ende März 1896 ist Schnitzler bei Bahr: ein Krankenbesuch. Bahr ist im Duell verwundet worden. Er hat sich an Stelle eines jüdischen Herausgebers der Tageszeitung »Die Zeit« geschlagen, der von irgendeinem provokatorischen Subjekt herausgefordert worden war. Die Juden waren nämlich soeben von den wehrhaften deutschnationalen Studenten für satisfaktionsunfähig erklärt worden, und nun dachten diese, ihre Beleidigungen bei jeder Gelegenheit ungestraft austeilen zu dürfen. Diesem sogenannten Waidhofener Beschluß begegnete Bahr, der Sohn einer streng katholischen Linzer Notarsfamilie, auf seine resolute Weise, indem er die Beleidigung auf sich nahm. Erstaunlicher Vorfall: Bahr ist also nicht nur der Verkünder oft zweifelhafter Werte – an die er bald gar nicht mehr glaubt – er begibt sich selbst in Gefahr, wo es eine wahre menschliche Stellungnahme, eine echte Gesinnung zu verfechten gilt. Zum erstenmal empfindet Schnitzler wirkliche Sympathie für ihn; von seinem Krankenlager fortgehend, überlegt er, ob er ihm nicht doch manchmal Unrecht getan hat.
Nur langsam und zögernd entwickeln sich ihre Beziehungen, fast unmerkbar stellt ein Kontakt sich her. Bahr versucht als Redakteur der Wochenschrift »Die Zeit« immer wieder, Schnitzler als Mitarbeiter zu gewinnen. Im November 1897 liest er die Novelle »Die Toten schweigen« öffentlich vor. Im November 1900 schreibt er in plötzlichem Impuls: »Mit Dir nächstens einmal reden zu können verlangt mich sehr, um Dir zu sagen, wie menschlich tief mich Deine ›Beatrice‹ berührt hat: sie ist mir weitaus das Liebste was Du noch geschaffen und hat mich völlig zu Dir hingerissen.«
Bald darauf ist Schnitzlers Novelle »Leutnant Gustl«, die er in der glücklichen Stimmung der Reichenauer Sommerwochen 1900 geschrieben hatte, zu Weihnachten in der Neuen Freien Presse erschienen. Ein denunziatorischer Artikel der Tageszeitung »Die Reichswehr« macht militärische Kreise darauf aufmerksam, daß Schnitzler in dieser Novelle die Ehre und das Ansehen der Armee geschädigt und herabgesetzt habe. Eine ehrenrätliche Untersuchung wird gegen ihn in Gang gesetzt, Schnitzler wird aufgefordert, sich vor diesem Ehrenrat zu rechtfertigen. Er hat einen Freund, der ihm zur Seite steht und dessen Ratschläge er befolgt: Max Burckhard, jetzt Hofrat beim Verwaltungsgerichtshof, widerrät seinem Freunde Schnitzler auf das entschiedenste, der Vorladung Folge zu leisten und damit einer militärischen Behörde irgendeine Kompetenz in literarischen Fragen zuzubilligen.
Der Sommer kommt – an einem heiteren Junimorgen sitzt Schnitzler beim Frühstück auf einer Salzburger Kaffeehausterrasse; eine Wiener Zeitung öffnend, liest er erstaunt seinen Namen zu Beginn des Leitartikels. So erfährt er, daß der Ehrenrat ihm sein Offizierspatent genommen und ihn degradiert hat. Was nun folgt, ist eine Flut von Für und Wider in in- und ausländischen Zeitungen: »Leutnant Gustl« wird abwechselnd »das Schunderzeugnis dieses Juden« und »ein Hauptbeweis dichterischer Genialität« genannt. Schnitzler hat nun ausreichende Gelegenheit, über das Kapitel nachzudenken: Wie kommt ein Urteil zustande?
Unter den vielen freundlichen Briefen, die kommen – auch von österreichischen Offizieren sind welche darunter – ist einer von Hermann Bahr:
»Lieber Arthur! Ich denke mir zwar, daß Du die lächerliche Entscheidung Deiner ›Affäre‹ mit der ruhigen Verachtung hingenommen haben wirst, die sie verdient, möchte Dir aber doch aussprechen, wie stark ich gerade bei diesem Anlaß meine Sympathie für Dich gespürt, und wie ich mich geschämt habe, in einem so grenzenlos albernen Lande zu leben, wo die Feigheit der Menschen beinahe noch größer ist als ihr Neid. Pfui Teufel! Und alles Gerede von ›Kultur‹ und so weiter kommt mir unsagbar dumm vor. Herzlichst grüßt Dich Dein alter Hermann Bahr
Schnitzler dankt ihm mit Wärme: » . . . laß mich bei dieser Gelegenheit auch einmal sagen, wie sehr es mich freut, daß wir Beide über die zeitweiligen Entfremdungen hinaus sind, die ja wahrscheinlich bei manchen Naturen, wie den unsern, entwicklungsphysiologisch bedingt und daher notwendig sind. (Du siehst, ich bin immer ›wissenschaftlich.‹) Nun ist das Alter der Mißverständnisse wohl endgültig für uns vorbei und wir sind so weit, daß wir einander – vielleicht auch ein bischen um unserer Fehler willen – Freunde sein und bleiben dürfen.«
Zehn Jahr mußten vergehen, ehe dieser Ton gegenseitigen Einverständnisses zwischen den beiden aufklingen konnte, die Zeit von dreißig bis vierzig, Mannesjahre voll rätselhaft-geheimer Formung des eigenen Ich bis zu dem entscheidenden Schritt in die Gestaltung der Umwelt. So verschieden ihre Naturen auf diese Umwelt reagieren mußten – eins war gemeinsam in ihnen: ihre kritische Liebe zu Wien. Nicht umsonst ist Wien die Stadt der Musik – einer bestimmten Art des Musizierens. Wo es sich triebhaft auflösen kann, dem sinnlich-schönen Klang schwelgerisch hingegeben, fortgeschwemmt und bewußtlos gemacht in einer fast weiblichen Gebärde – da ist Wien empfänglich und dankbar wie keine zweite Stadt der Welt. Reiz für den flüchtigen Augenblick, Opiat gegen die matte Wirklichkeit, Zerstreuung an Stelle der Sammlung – so will Musik, so will alle Kunst hier verstanden sein. Was ihr in dieser Stadt verwehrt ist: ihre wahre Sendung – formendes Element zu sein, umbildender Griff in seelisch-geistiges Gebiet. Weiter als ins Bereich der Emotionen darf sie nicht dringen – hier schlagen Türen zu.
Nur in einer mittleren Sphäre will diese Stadt genießen und leben – und darin ist sie meisterhaft ausbalanciert. Was darüber hinausweist, ins Göttliche oder Dämonische reicht, erschreckt sie bis ins Mark. Was ist es, das sie fürchtet? Nicht aufwachen, nicht innewerden, nicht klar sein! Das Hebbel-Wort: »Oh rühr nicht an den Schlaf der Welt« – nur in Wien konnte es aufkeimen.
Mit müden Augen, die viel Wechselvolles gesehen haben, schaut diese Stadt den Lauf der Zeiten – ihr ist nichts so gut und nichts so schlimm, als daß es nicht mit Gleichmut ertragen werden könnte. Im schönen Augenblick das umflorte Wissen um seine Vergänglichkeit – im Dulden das gelassene »was kannst machen?!« – das ist ihre Form von Widerstand; das eigene Elend löst sich in Selbstironie, alles Pathos in Parodie auf, und die Skepsis ist umglänzt von mildem Schimmer altersmüder Weisheit.

Diese Worte Bahrs zeigen den Antrieb seines Wesens, der ihn veranlaßt zu wecken, zu mahnen, zu wachen: weil er fördern will. Und sagt die Duse ihm einmal: »Aber Sie! Sie sind doch gar kein Kritiker – Sie sind unser guter Kamerad!«, so macht ihn das stolz, denn das ist alles, was er sein will.

Am 15. Mai 1902, an seinem vierzigsten Geburtstag, erhält Schnitzler einen wunderschönen Strauß Rosen und dazu diesen Brief: »Du bist enttäuscht, lieber Arthur, da Du geöffnet hast und siehst, daß diese Blumen, statt von einem Weibchen, nur von mir sind. Aber sie sollen Dir halt heute, wo Du ankommst nel mezzo del camin di nostra vita, einmal sagen, daß ich Dich sehr gern habe und über unser gut und fest gewordenes Verhältnis froh bin und meine, es könne, was immer noch das Schicksal zwischen uns werfen mag, doch eigentlich im Grunde niemals mehr wankend werden. Und mir ist, frühere Dinge jetzt erst zu verstehen, und ich rede mir ein zu meinen, daß was ich einst gegen Dich empfunden habe, vielleicht auch nur eine freundschaftliche Ungeduld gewesen sein mag, den zu lange bei seiner Jugend Verweilenden schneller männlich werden zu sehen. In meinem Verhältnis zur Duse weiß ich jetzt ganz gewiß, daß die unbegreifliche Wut, die ich nach meiner ersten Begeisterung plötzlich auf sie hatte, genau mit ihrer innern Krise zusammenfiel, aus welcher sie verwandelt emporstieg. Wäre ich d’Annunzio und würde ich stilisieren, so würde ich sagen: Ich bin der Ehrgeiz meiner Freunde . . . «

Am 17. August 1797 schrieb Schiller an Goethe:
Als ein Genius oder ein Gespenst müsse ihnen die Poesie gegenübertreten, setzt er noch hinzu.
Und der ganz alte Goethe spricht Eckermann gegenüber aus, er sehe eine barbarische Zeit heraufkommen. Denn was sei die Barbarei anderes, als daß die Leute das Vortreffliche nicht anerkennen . . .
Nun, daß sie inkommodiert werden, sich ihrer platten Behaglichkeit nicht gar zu sehr erfreuen dürfen, darüber wacht um die Wende des Jahrhunderts in Wien Hermann Bahr. Die helle Wut packt ihn, wenn die Menge nichts anderes mehr sehen will als seichten Zeitvertreib, Zerstreuung und Entspannung für matte Hirne sucht nach der Mühsal des Erwerbs. Letzter und tiefster Ernst ist ihm die Kunst – der innerste heilige Raum, in dem der Mensch sich selbst gegenübertritt und sich so rein begegnet, wie ihn die Hand der Gottheit in die Welt gestellt hat. Er ist da angelangt, wo er vom Künstler wie von Empfangenden das gleiche Verhalten dem Sittlichen gegenüber fordern muß. Ein Künstler kann, in seinem Sinn, nur einer sein, der sich fähig fühlt, den Menschen Glück zu bringen, indem er ihnen hilft, schöner und besser zu werden. »Wenn nun aber das Verhältnis der Menschen zur Kunst so entartet ist, daß sie ganz verlernt haben, das Kunstwerk auf sich selbst zu beziehen und es in ihr Sein und Tun aufzunehmen, dann ist in solcher Zeit der Künstler um seine Kunst betrogen. Wenn das Kunstwerk seinen eigentlichen Sinn, dem Leben ein Beispiel zu geben, verliert, dann bleibt dem Künstler, eben um ein Künstler zu sein, nichts übrig, als dieses Beispiel unmittelbar durch sein Leben zu geben. Denn dem Künstler ist sein Kunstwerk nur so viel wert, wie davon im Sein und Tun der Menschen lebendig wird. Hat das Kunstwerk in unserer Zeit diese Kraft nicht mehr, so wird sich der Künstler ein anderes Mittel suchen müssen: die Rede von Mann zu Mann, die Wirkung durch seine lebendige Gegenwart oder aber in seiner höchsten Not irgend eine die Menschheit aufschreckende Tat, wie es Tolstois Flucht und sein erhabener Tod war.«
Wer Maßstäbe aufstellt, muß das Äußerste auch von sich selbst fordern. »Sind wir nichts anderes, so sind wir doch ein Beispiel«, heißt es bei Schnitzler.

Zu Beginn des Jahres 1903 erscheint Bahr bei Schnitzler, krank, aschgrau, gealtert aussehend – und wenige Tage darauf muß er sich einer Operation unterziehen. Die Rekonvaleszenz ist schwerer, als die Ärzte annehmen konnten. Die »Ochsennatur«, von der Bahr selbst einmal in frühen Jahren sprach, hat diesmal ihren ersten schweren Stoß erlitten. Ein Herz, das sich nie geschont hat, lautet die ärztliche Diagnose. Ein Mensch, der sich immer unbedenklich an die Welt verschwendet, empfindet der Freund, der mit dem Gefühl tiefster Sympathie am Bett des Kranken erschienen ist.
Obwohl noch schwach und müde zu Bett, schreibt Bahr eine Art Rückblick über Schnitzlers Entwicklung. Dieser sei nach seinem ersten plötzlichen Erfolg in Gefahr gewesen, sich zur Manier verführen zu lassen. Und er, Bahr, habe diese Befürchtung damals ausgesprochen, gereizter und heftiger, als es notwendig gewesen wäre, aber eigentlich doch in einer guten Gesinnung. Schnitzler jedoch hätte ihn gar nicht gebraucht, »denn in ihm ist jene wunderbare Ungeduld der ganz ehrlichen Menschen, die sich niemals beruhigen, bei keinem Erfolge verweilen, sondern unerbittlich von sich das Höchste zu fordern entschlossen sind«.
Es duldet ihn nicht lange, sich der Krankheit hinzugeben. Schon schlägt er wieder, mit halb noch versagenden Kräften, nach allen Seiten aus. Das meiste, was jetzt rundherum geschieht, ist dazu angetan, ihn aufzureizen und zu ärgern.
Aber er gibt nicht nach. Ende 1903 läßt er das kleine Buch »Gegen Klimt« erscheinen – eine Sammlung der böswilligsten Kritiken über den bedeutenden Maler, dessen Bilder »Medizin« und »Philosophie« nach einem Protestgeheul der Öffentlichkeit von der Wiener Universität, für die sie gemalt waren, zurückgewiesen wurden.
Im Herrenhaus hatte sich während einer Debatte über aktuelle Kunstfragen ein Graf Montecuccoli erhoben, um gegen die »krankhaften Auswüchse« in der bildenden Kunst Stellung zu nehmen, die sich namentlich in den Bildern von Klimt zeigten. Das Unterrichtsministerium sollte eine derartige Kunst in keiner Weise unterstützen, sondern alles aufbieten, um diese Richtung einzudämmen.
Gegen Mahler wird wieder einmal mit allen Mitteln gehetzt. Das Publikum der Wiener Konzertsäle, seit jeher zunächst skeptisch, konservativ und jeder neuen Tonsprache abgeneigt – seit Brahms ist hier der allgemeinen Ansicht nach nichts Nennenswertes komponiert worden – ließ es sich genügen, Mahlers Opernaufführungen hervorragend zu finden; daß sich aber in seinen Werken eine tragisch ringende Seele aussprach, das ging den Wienern zu weit. Und geringschätzig nennen sie seine Symphonien, von der Kritik darin bestätigt, Kapellmeistermusik.
Zu den ersten, die in Mahler nicht nur den großen Dirigenten, sondern auch den bedeutenden Komponisten erkennen und verehren, gehörte Schnitzler.
Er fehlt bei keiner Erstaufführung seiner Symphonien, die Mahler selbst dirigiert; regelmäßig nimmt Schnitzler im Hintergrund der zweiten oder dritten Loge des großen Musikvereinssaales Platz, um gut zu sehen und zu hören, selbst aber möglichst unauffällig zu bleiben. Zu persönlicher Bekanntschaft zwischen Mahler und Schnitzler hatte sich noch keine Gelegenheit gegeben. Aber es war Mahler gewiß nicht unbekannt geblieben, welchen Bewunderer er in Schnitzler hatte.
In der Pause eines seiner Konzerte tritt der Sekretär der Gesellschaft der Musikfreunde in Schnitzlers Loge: »Herr Doktor, Mahler läßt Sie um ein paar Zigaretten bitten, er hat seine zuhause vergessen.« – Eine überraschende und liebenswürdige Form erster Annäherung.
Eine kleine Abendgesellschaft bei Mahlers Schwager, dem Geiger Arnold Rosé bringt die beiden endlich in Verbindung. Schon diese erste Begegnung hat Schnitzler völlig gefangen genommen – es war ihm klar, in Mahler einen der wenigen großen Menschen zu sehen, denen er je begegnet war, und eine tiefe, fast schüchterne Liebe zu Mahler hat ihn seither nie mehr verlassen.
Symbolisch für Mahlers Grundstimmung erschien ihm der erste Satz der dritten Symphonie – die Vision einer vorbeiflutenden Volksmenge, die sich marschierend einer unbedenklich brutalen Lustigkeit hingibt, während er selbst, als einsamer Zuschauer am Rande stehend, alle Stimmen tiefer Welterkenntnis und dämonisch aufgewühlter Melancholie übermächtig aus sich hervorbrechen fühlt. Dieser Seelenverfassung wußte Schnitzler sich im Innersten nah und verwandt, und aus mancher Stelle seines eigenen Werkes tönt gleiche Sehnsucht, gleiches Wissen und gleiche Trauer.

Bahrs Buch über Wien, ein einziger scharfer Peitschenhieb, ist die bittere Anklage, in der er sich endlich alles vom Herzen schreibt, was ihn im Lauf der Jahre bis zum Rande mit Zorn erfüllt hat. Er möchte am liebsten diesem Wien »die alten Fetzen vergangener Schönheit vom Leibe reißen, die seine Schäden decken, wie es denn nur durch eine rauhe Jugend zu retten wäre, die grausam es erst aus seinem Leichentuch von Schönheit risse . . . «
Der Mensch ist verboten, sagt Bahr; er meint: die Persönlichkeit. Sie war in Österreich nie gern gesehen. Dem Beispiel seines Herrschers folgend, ist Einordnung geboten, jedes Hervortreten scheint unziemlich. Lautlosigkeit, Zurückweichen, Umgehen wird geübt, wo Bahr weithin hörbare Auseinandersetzung, sichtbare Stellungnahme fordert. In wenigen Ländern ist so viel Talent zu finden, das sich achtlos verspielt, namenloses Volkslied wird, zu schönen Farben, Formen, Hausrat aufgeblüht, ohne viel Wesens aus sich zu machen.
Zu Ehren Gottes und der Heiligen sind seine Holzfiguren geschnitzt, blüht seine Malerei, und kunstvoll feine Eisengitter drängen so leicht wie undurchdringlich den derben Griff der Wirklichkeit von allen Hochaltären seiner Imagination zurück.
Die widerspruchsvolle Geste zwischen Hochmut und Bescheidenheit, die Selbstverständlichkeit und Würde uralten Reichtums kommt überall zum Vorschein, bis in die kaiserliche Schlichtheit von Schönbrunn, das erst bei näherem Zusehen seine Pracht enthüllt. Bahr hört prophetisch das ferne dumpfe Schüttern, das dieses Österreich untergraben will.
»Ich habe den Verdacht«, schreibt er, »als ob das Sein niemals, daß immer nur das Werden schön sei!« Ein ewig werdend sich Wandelnder, vorwärts Flüchtender ist er selbst, untreu dem Gestern, unstet im Heute und nur voll Sehnsucht nach dem Morgen. Das ist die Gebärde seines Landes nicht, jenes Österreich, das dämmernd ruht, in sich geschlossen, rund in sich zurückgebogen, willenlos seine stummen Kräfte treibend, gelassen wie die Natur selbst und grausam achtlos auch wie sie, wenn edle Frucht zugrunde geht.
Der heilige Zorn, die aufgereckte Faust, die dieser rebellierende Patriot herausfordern will, sind seiner Heimat Geste nicht. Weltliche Macht ist nicht ihr letztes Ziel, denn allen Glanz und Reichtum hat sie längst besessen, schon ausgekostet seine fragwürdige Vergänglichkeit; in ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, ist Österreich hineingeraten.
In diesem Gleichmaß des Beruhens und Beharrens meint freilich jeder zu ersticken, der aus dem Willen und Bewußtsein lebt.
Und wo denn sonst als in dem immer gärend bewegten, stürmisch jungen, zukunftsträchtigen Deutschland, kann Bahr zu finden hoffen, wonach es ihn verlangt?! Aus früher Jugend schon berichtet er von dieser Sehnsucht nach Deutschland. Im Jahre 1883, als Richard Wagner starb, hatte er im Trauerkommers der Wiener Studentenschaft eine Rede zu halten; und die wirkte in ihrem Bekenntnis zu Deutschland so stark, daß er schon vierzehn Tage später relegiert wurde. So ging er damals nach einem Umweg wüster Rauf- und Saufzeit in Czernowitz nach Berlin.
Es kam der siebzigste Geburtstag Bismarcks, und Bahr sollte im Namen der deutschen Studentenschaft Österreichs dem vergötterten Kanzler eine Rede überreichen.
Er wird zunächst gar nicht vorgelassen, man nimmt ihm die Adresse nur höflich dankend ab, es bleibt ihm also vorläufig nichts übrig als seiner Wege zu gehen; aber er dringt darauf, vom Kanzler selbst empfangen zu werden. Einige Tage später wird er ins Palais beschieden, und der Fürst läßt ihm durch seinen Rat von Rottenburg danken. Welche Enttäuschung! Und was muß er hören? Bismarck freue sich, die Wiener Studenten so gut deutschgesinnt zu wissen, sie könnten es aber nicht besser beweisen, als wenn sie ihre ganze Kraft einsetzten, um Österreich stark zu machen. Deutschland rechne auf diese Jugend, es brauche sie – aber in Österreich. Ein mächtiges Österreich sei Deutschland unentbehrlich. Das alles war in kühlem Ton so gleichsam nebenhin gesagt.
Schweigsam und betreten saß nun der junge Mensch da; die kühnen Worte, mit denen er erfüllt war, in sich verschließend. Und als er nur noch stammeln kann, ob seinen Kameraden damit nicht doch ein zu großes Opfer zugemutet würde, sah ihn der Rat lächelnd an und meinte: ob sie nicht alle ein viel größeres Opfer bringen müßten, um in das Deutsche Reich aufgenommen zu werden, ob sie das überhaupt könnten und ob es, wenn sie es könnten, nicht doch schade darum wäre. Welchen Vorteil das deutsche Wesen denn davon hätte, wenn diese österreichische Spielart daraus verschwände, diese Eigenart, die sich gerade im Zusammenleben mit vielen andern Völkern entwickelt hat und nur darin zu erhalten wäre.
So sah des Kanzlers Botschaft aus. Denn längst schon hatte seine Weisheit es erkannt: »Wenn Österreich nicht existierte, müßte man es erfinden.«
In manchen Wandlungen, in vielen »Superlativen des Lebens« bewegt sich von nun an der Mann, dem »mittlere Zustände unerträglich sind«. Ein Sozialist ist er in Wien. In Paris ein Bohemien, von den Problemen künstlerischer Form besessen. In Spanien ein Bummler, der Freund von Stierkämpfern und Tänzerinnen, voll Hohn bei dem Gedanken, daß er je Kant und Marx gelesen hat. In Deutschland ein Vorleser neuester Dichtung auf Tournee – »so bin ich in Nord und Süd für Deinen Ruhm besorgt«, schreibt er an Schnitzler. Einmal für eine Weile Regisseur bei Max Reinhardt. Ein Autor vielgespielter Stücke: »Meine Lustspiele sollen den Leuten vorschwindeln, daß man über das Leben lachen kann.« Und wenn er auch in einem Brief an Schnitzler in Berlin »alles, fast alles ganz famos findet«, sieht er doch, was in Vergangenheit und Zukunft seine Geltung hat.
In London ist er der Gesprächspartner Bernard Shaws, den er zum  englischen Hermann Bahr ernennt. Endlich wieder in Wien, wird er »der große Nothelfer der österreichischen Kunst«, wie er sich selbst bezeichnet, und als den überlegenen Meister seines »Dialog vom Marsyas« muß man ihn erkennen.
Nur durch eine erbitterte Anrufung seiner innersten Instinkte hat er sich von der österreichischen Vergangenheit frei gemacht; ganz frei freilich erst, seit er mit dem Tod so vertraut ist, seit der Tod wirklich sein bester Freund geworden ist, der einzige, den er sich wirklich noch verdienen will . . . so schreibt er in einem Brief an Schnitzler.
Sein bester Freund erst, seit er ihn, es ist wenige Monate her, in einem schweren und harten Kampf niedergerungen hat. Von seinem Wiener Arzt war er für zwei bis drei Monate in ein Sanatorium am Bodensee geschickt worden. Es ist Januar, die Winternebel brauen trübselig über der toten Landschaft, trostlos ist sein Zustand, die schwere Kur bringt ihn an den Rand des Vergehens. Aber der Anstaltsarzt versteift sich hartnäckig auf seine Heilmethode. Mit einem letzten Aufbäumen aller Kraft beschließt der Kranke zu fliehen. Er gibt sich verloren. Aber wenn es das Ende ist, dann nicht hier, nicht in dieser düsteren Fremde sterben! Er schleppt sich heimlich aus der Umfriedung der Anstalt, kommt mühselig bis an ein Wirtshaus, stürzt dort, da er zusammenzubrechen droht, ein Glas Schnaps hinunter – nichts haben ihm die Ärzte so streng verboten wie Alkohol – und erreicht seinen Zug. Auf dieser Reise, in diesen vielen Stunden der Heimfahrt meint er zwanzigmal, nach Luft ringend, zu vergehen, und in solcher Not, ein Bettler, übel zugerichtet, beginnt er zu beten, erstarkt im Gebet, befreit sich, indem er endlich, endlich sich unterwirft, sich ergibt, sich lösen kann vom Druck und Krampf und Widerstand der eigenen Natur – er lernt, sich zu überwinden, findet die Kraft »dem Erhabenen selbstverzichtend Ja zu sagen« – und von da an, tief entspannt, ein neues Leben zu beginnen.
»Aber über dies alles einmal mündlich in einer guten Stunde, denn es ist tief, ›viel tiefer als der Tag gedacht‹, Tristantief, wo es im zweiten Akt viel schöner zu finden ist als ich es je werde aussprechen können«, schreibt er an Schnitzler.
Gleichzeitig gesteht er, daß er sich mit einer gewissen törichten Leidenschaft, der er aber im Augenblick so viel unsagbares Glück verdanke, wie er es nie im Leben gekannt, aufs Hören von Musik geworfen habe – »vielleicht wird man so transparenter Seligkeiten erst im Angesicht des Todes fähig« – wovon er dann manchmal in einer Ermattung mit vollständigem Versagen und Versiegen jeder Kraft zurückbleibt. Was ist geschehen? Im Dunkel des Opernparketts sieht man seinen mächtigen Kopf jetzt häufig auftauchen, an allen jenen Wagner-Abenden, die Mahler dirigiert, in denen Anna von Mildenburg die Isolde, die Walküre, die Ortrud ist, die große Sängerin, wie eine Sybille des Michelangelo, mit einer Stimme, die gleich einem dunklen Raubvogel in den Lüften schwebt. Ein überlebensgroßes Maß der Gestaltung, gepaart mit dieser dämonischen Stimme, gibt ihren Figuren die Wirkung, wie sie von der antiken Tragödie zu denken ist – und ruft den schon Weltverlorenen zurück von Grenzen gefährlicher Todesnähe. Und obwohl er »äußerlich in einem rechten Durcheinander lebt, das er nicht ändern kann und nicht ändern möchte«, gibt ihm die persönliche Begegnung mit der bedeutenden Frau ein Gefühl frohester innerer Genesung, und der bis dahin in tiefer Einsamkeit gelebt hat, sieht sich endlich dem einzigen Wesen gegenüber, das ihn je aufzuschließen imstande war und dem er sich für immer verbindet.

Die tiefste Erfahrung, die Menschen zwischen Werden und Vergehen durchzumachen haben – der unlösbare Rest von Fremdheit auf dem Grunde aller Beziehungen – ist das ewige Problem der Freunde. Segen und Schauer der Einsamkeit, das leidenschaftliche Sehnen, sich losgebunden zu verströmen in die Welt und doch wieder Rückstoß und Flucht ins eigene Innere, dies ist der Kreislauf, der die Mitte ihres geistigen Erlebens wie ein Zauberring umschließt.
Voll Staunen, wie nach unerreichbar ferner Sphäre, sieht Claudio, der Tor, hinüber zu jenen, die im Tale wohnen.
Hier ist ein Wissen um die Grenzen aller menschlichen Beziehung, eine Erkenntnis, die sich auf leichtem Flügel über Abgründe voll tiefer Trauer weghebt. Eine Täuschung, ein Verkennen der Distanz von Seele zu Seele ist nicht mehr möglich. Das Gespräch, schönste Bestätigung aller Nähe, ist eine schwankende Brücke geworden, auf der Begegnung, Aug in Aug und Brust an Brust, selten ist wie jedes Wunder, selten glückhafter Moment bleiben muß, sollen die Dinge nicht entweiht, nicht ihrer tiefsten Kraft beraubt werden.
Gespräch ist Anlaß zur Selbsterläuterung geworden, ein Monolog zu zweit – fragwürdig, was noch hinüberdringt, auch unter diesen Meistern des Wortes. Was hört der andere? Was rührt ihn an?
»Und daß wir von einander nicht gar zu viel wissen und immer ein Jeder, wie ein Neuer aus seinem Leben hervortritt und wieder hineingeht, ist sehr schön.« (Loris in einem Brief an Schnitzler.)
Bahr gesteht, wieviel ihm »Der einsame Weg« in seinen Hauptgestalten und ihrem Erleben ist; am meisten berührt ihn die Figur des Julian Fichtner, in welchem er unheimlich viel von sich selbst findet. Ja, so sehr fühlt er sich mit ihm verwandt, daß er den Wunsch verspürt, ihn auf irgendeiner Bühne selbst darzustellen. Und was von Julian Fichtners Bildern gesagt wird, bezieht er auf sich selbst. »Meine Sachen ließen sich kritisch garnicht besser bezeichnen als damit, daß ich mich leider auch in ihnen sozusagen nur vorübergehend aufhielt.« (Brief an Schnitzler.)
Und ist er nicht auch wirklich von Anbeginn jenem Julian gleich gewesen, der jeder Fessel entläuft, »als läge dort hinter jenen Hügeln die Zukunft, schimmernd von Glanz und Abenteuern – und wartete auf ihn«? Ist nicht auch in ihm »jene ungeheure Angst, die Angst, das Leben zu versäumen, das Einzige, das Höchste«, die ihm auch Schnitzlers »Der Ruf des Lebens« auszudrücken scheint? Noch nie, so empfindet er, ist Schnitzler so tief in das Gemüt seiner Generation, in ihre letzte Sehnsucht eingedrungen wie in diesem Werk. »Du wirst sehen«, schreibt Bahr, als er von einem eben beendeten Werk spricht, »daß mir dies, gerade dies und eigentlich nur dies allein unser eigentliches Problem scheint, von dem mir alle anderen unserer Forderungen oder Fragen nur Abwandlungen oder Variationen scheinen.«
Wie aus einer gemeinsamen Wurzel entstanden, bricht dieses Thema in den Dichtungen der Freunde auf: die ungeheure Angst, das Leben zu versäumen. Von daher stammt die Liebe zur Gestalt des Abenteurers, die Neigung, den von allen Bindungen gelösten Menschen an letzte Grenzen seelischer Spannung zu setzen, sein Inneres in Drang und Druck hinaufzutreiben bis in tollste Wirbel der Gefahr.
Nacht, Rausch und Traum am Rande der Vernichtung – die Stadt Bologna, vom mächtigen Feind belagert, vor ihrem letzten Ausfall – das blutgierig lauernde Volk von Paris, wenige Stunden vor der Erstürmung der Bastille – das Traben der Rosse, immer nur das Traben des todgeweihten Regiments vor den Fenstern des sehnsüchtigen Mädchens, das verzweifelt den Geliebten unter den Todgeweihten und sich selbst an einen bösen alten Vater gefesselt weiß – das sind die Situationen in Schnitzlers Dichtung, die Hintergründe, vor denen Sieg oder Unterliegen des lockenden Lebens sich entscheiden. Der Abenteurer Hofmannsthals im tänzerisch leichten Spiel um Gold und Genuß – gejagt von seiner Gier und selber ihre Beute – ein Gleiten, und er weiß: der nächste Schritt heißt Tod. Ein Klopfen an der Tür, und er schreit auf: »So ist’s der Messer Grande und mein Tod!« – zu jeder Zeit des Äußersten gewärtig. Der Gegenspieler Tod ist überall, an jedem Wegrand lauert er, den Preis zu fordern. Läßt das Bewußtsein seiner Gegenwart nicht alle Farben feuriger aufglühen, den schönen Augenblick nur um so süßer auf der Zunge schmelzen, weil es der letzte gewesen sein kann?
»Und gibt es einen anständigen Menschen, der in irgend einer guten Stunde nicht an ihn denkt?« sagt Herr von Sala. Dem heldischen Herzog Bentivoglio1 glüht der Moment nur um so köstlicher auf; den sichern Tod vor Augen, weiß er:
Die Fülle . . . Es ausschlürfen können, bis es alle seine Süße hergegeben hat, wie eine üppig reife Traube, die trunken macht – das allein kann mit dem Tod versöhnen. Nichts versäumt haben, nicht alle tiefste Lust und nicht die herbste Qual, das ist es, was auf alle Straßen treibt, das läßt die Begierde nicht ruhen – und wie sehr ist sie der Neugierde schwesterlich verwandt – das ist die Fanfare auf der Jagd nach dem nie erhörten Erlebnis – und um wie viel mehr ist es das Lauschen nach dem Echo, das durch die eigene Seele zieht, der Nachklang aus dem weiten Land der Seele, darin so vieles Raum hat: Liebe und Treulosigkeit, Leidenschaft und Kälte, Wahrheitstrieb und Lüge, alles Hohe und Niedere dicht beieinander, sonderbar gekoppelt.
»Der Mensch ist weit, allzu weit, man sollte ihn enger machen«, dies Wort des Dmitrij Karamasow stößt Bahr zu einer Zeit blitzhaft entgegen, da es ihn schon gemahnt, »aus der Unendlichkeit der Welt in bergende Enge« zu flüchten. Maß und Bändigung kommen spät, und meistens sind es Frauen, die das Wort der Selbstbegrenzung aussprechen.
Das also war’s? Ist es nur darum gegangen? Auf der Spur des eigenen Ich ist der Mensch rund um die Welt gelaufen. »Wo ist Wahrheit?« fragt Bahr, als er, erschüttert die Unsicherheit des Ich entdeckend, vom unrettbaren Ich spricht. »An Stelle des Constanten und Absoluten tritt das fließende wechselnde Spiegelbild der eigenen Einbildungskraft . . . Da werden wir erkennen, daß das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion . . . « – und sich zusammenfassend, wie vor einem Meer von Ungewißheit, das ihn zu überfluten droht: »Für mich gilt nicht, was wahr ist, sondern was ich brauche!«
Und doch kommt für ihn auch ein Tag, an dem ein Schauder ihn ergreift vor so viel Freiheit. Zu oft hat er sich seines Selbst entäußert, und endlich steigt ein Sehnen auf – vielleicht ist’s heimliche Erinnerung aus früher dumpfer Kindheit, da eine sanfte Hand die seinen zum Gebet faltete – ein dunkles Ahnen, das Schutz sucht, Maß will, Sicherheit und unumstößliche Instanz. Endlich erkennt er, daß Bei-sich-angelangt-sein auch schon Auf-sich-verzichten heißt, zugunsten eines Höheren.
»Das Erhabene«, sagt er, »dem man sich nur dienend naht.« – Der Unband, der ruhelos sich Wandelnde, steht schließlich doch vor Endergebnissen; und ein Nietzsche-Wort hat ihm den Star gestochen: »Denn ›autonom‹ und ›sittlich‹ schließt sich aus.« – Nun heißt es wählen; und da Befreiung nur im Erkennen des Absoluten und Konstanten, nur im Bereich des Sittlichen zu finden ist, kann er auf »autonom« verzichten.
Wir sehen ihn in Salzburg, im Sommer 1920. Draußen vor der Stadt wohnt er jetzt, im Schlößchen Arenberg. Er lebt inmitten seiner vielen Bücher – ein mächtiger Leser, schreibt sein Tagebuch, ruhig und voll heiterem Wissen, unangefochten von der Welt, die ihn so lang gefangen hielt.
Man sieht ihn durch die sonnbeglänzten alten Straßen gehen, in der bequemen Tracht des Landes, mit nackten Knien, die Gestalt ist sehnig, voll vitaler Kraft, Haar und Bart sind weiß geworden. Die Leute sehen ihm freundlich zwinkernd nach und sagen: Der liebe Gott. Sie sagen auch, daß er am frühen Morgen in der Messe betend auf den Knien zu finden ist.
Nur schauen am hellen Tag zwei sehr verschmitzte Augen aus dieser Gottvatermaske in die Welt. Er plaudert, er erzählt, wie er sich selbst kuriert. Seit beinah zwanzig Jahren tut er genau das, was ihm der Arzt verboten hat. Er raucht, er ißt kein Fleisch, er steigt an jedem Morgen auf irgendeinen hohen Berg. Ganz langsam, systematisch atmend, ein Training für sein Herz. Meist nimmt er sich Gesellschaft mit, der liebste und klügste Gesprächspartner ist ihm Stefan Zweig. Und kommt im Steigen eine steile Stelle, wo er nicht reden will – nun muß man seine Augen lustig blinzeln sehen – sagt er absichtlich etwas Provozierendes, »wirft ein Hölzel«, das den andern in Harnisch bringen muß, und ist die steile Stelle mit Keuchen für den eifrig sprechenden Begleiter überwunden, fühlt er sich um so besser ausgeruht und kann nun wieder weiterreden. Gottvater lacht . . . Nein, es scheint, es war doch wieder nicht der rechte, es war doch wieder der alte Hermann Bahr, der hier vorüberging.
Im Winter 1921: Salzburg im Schnee. So stumm und einsam sind die Tage, so schweigend lebe ich, wie von mir selber losgelöst, in dieser Stille. Billets kommen, in der winzigen schönen Schrift Hermann Bahrs: »Darf ich Sie zu einem Spaziergang holen?« Mit dem Glockenschlag erscheint er, ist ritterlich, charmant und führt mich jedesmal zwei Stunden lang auf schneeglitzernden, schimmernden Wegen durch die Landschaft, in einem nie stockenden Gespräch, voll Ernst und voll Humor, so zart und so voll Weisheit, als ob er eine Krise, eine Hilfsbedürftigkeit verspürte. Güte? Ja, es war große Güte. Es sei ihm nicht vergessen.
Sein eigenes Problem streifend: »sich aus allzu großer Weite in eine welterfüllte Enge zurückzuziehen«, streift er einmal zugleich auch das der Habsburger, »des adeligsten Hauses der abendländischen Geschichte«:
Dieser Sinn ist: Heimkehr. – »Nach dem Gesetz, nach dem du angetreten . . . « – Wieviele Phasen er durchlaufen haben mag, er ist geworden, was er von Anbeginn gewesen, er ist, was er so hart bekämpft: ein österreichischer Mensch mit allen seinen Schichten, seinen Widersprüchen, im Kampf mit seiner weitläufigen Natur, Peer Gynt aus Oberösterreich, der seinen Ruhepunkt erst im Dämmerlicht der Kirche findet.
Löst es sich nun auf in Weihrauchwolken und Engelchören, dies reich bewegte Leben voll Aufruhr und Ketzerei? Wir hören es nicht mehr. Was wir noch hören, ist ein weher Ton.
Aus Deutschland, dem einst so ersehnten, aus seinem letzten Wohnort München, wohin es ihn verschlagen hat – damit sein österreichisches Schicksal sich ganz rein erfülle – schreibt er im Jahre 1930, drei Jahre ehe er stirbt, an Schnitzler: »In Bereitschaft sein ist alles! – Nun, ich bin bereit, aber es ist nicht angenehm . . Sag’s nicht weiter, wenn ich Dir gestehe, daß von Jahr zu Jahr mein Heimweh nach Wien wächst, fast so stark wie das meiner Frau . . . Aber Wien ist vergeßlich, und so werden wir wohl in der Verbannung sterben . . . «
Hatte Schnitzler damals ebenso das Gefühl, daß sein Vaterland in nichts zerrann? Nein; denn ihm bedeutete – bei aller Ahnung drohenden Unheils – der Lauf der Geschichte einen kontinuierlichen Vorgang ohne Zäsur und ohne Aktschluß, Heimat eine unwandelbare Gegebenheit. Und jenseits von aller Politik fing ihm das Denken, das Wirken und das Leben an.
Hat er sein Werk für die Welt oder gegen die Welt geschaffen? – Über der Welt, wie jeder Künstler.
Das Schicksal Österreichs? Gewiß, es hat sein Werk bedingt, geformt, sein Leben leicht und schwer gemacht, er war darein verwoben – es war sein. Aber was ist Schicksal?
»Nicht, was einem Menschen von außen zustößt, sondern was Einer von der Welt appercipiert, das ist sein Schicksal.«
Mit diesen Worten, gesprochen einst von Friedrich Gundolf unter dem nächtlichen Himmel Venedigs – es schwang sich befreiend auf bis unter die schwebenden Sterne – will ich von Hermann Bahr Abschied nehmen.

  1. 1 »Der Schleier der Beatrice«